Krawattennazis. Peter Langer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Langer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672870
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Lieberknechts Hütte stand, befragten die Anwohner auf scheinbar nachbarschaftlicher Basis. Gab es Auffälligkeiten? Was für ein Nachbar war der getötete Banker eigentlich? Emde war klar, dass die Leute vom Diemelsee keinem Ermittler aus dem fernen Kassel Rede und Antwort stehen würden. Da musste schon ein anderer Ton angeschlagen werden, den man nur beherrschte, wenn man sich von Kindesbeinen an kannte. Und das Gespräch erst mal mit den Dingen begann, die wirklich wichtig waren: Die aktuellen Milchpreise oder der Ernteausfall im zurückliegenden Sommer. Die Kollegen aus Kassel fragten im Hotel am See nach, einem großen Kasten mit knapp 60 Zimmern und einem eigenen Steg in den Diemelsee. War den Rezeptionisten ein Gast aufgefallen, der, in welcher Form auch immer, aus dem Rahmen fiel? Oder dem Personal des Restaurants? Gab es eine kurzfristige Buchung für nur eine oder zwei Nächte? Einen fremd klingenden Namen oder Akzent? Emde hatte nicht viel Hoffnung auf verwertbare Ergebnisse. Aber sie durften nichts unversucht lassen.

      Über all das war Emde im Laufe des späten Mittags über seinen Tablet-PC informiert worden. Er blickte auf die vier Leuchtziffern zwischen Tachometer und Drehzahlmesser seines Dienstkombis. Zwanzig vor drei. Bis er in Korbach sein würde, wäre es kurz vor vier Uhr. Zu spät, um sich noch in die Akten einzulesen und einen Termin mit der Geschäftsführung von Prospersoil in Kassel zu machen. Das Unternehmen war durch das Kommissariat bereits über den Todesfall informiert worden. Offizielle Verlautbarungen verkniff es sich für den heutigen Sonntag jedoch noch – immerhin war Lieberknecht noch nicht durch seine Frau identifiziert. Für etwas Aktenstudium zum Fall an sich und einen Abstecher bei Kleine, den Emde schon im Laufe des Tages geplant hatte, war jedoch nach seiner Rückkehr an den Diemelsee noch Zeit. Zuvor würde er André Grimmelmann Hallo sagen. Er glaubte zwar nicht, dass der bekennende Umweltaktivist etwas mit dem Tod von Lieberknecht zu tun hatte. Einige kurze Fragen konnten jedoch manchmal den Blick für neue Tatsachen freimachen.

      Kapitel 3

      Als sein Mobilfunkgerät mit einem lauten Glockenton den Eingang einer Kurznachricht signalisierte, tauchten auf den Autobahnschildern bereits die ersten Hinweise auf den Flughafen auf. Der Mann war überrascht. Das Gerät war ein Wegwerfhandy, eigentlich nur für den Notfall gedacht, damit sein Auftraggeber mit ihm Kontakt aufnehmen konnte, wenn etwas Unvorhergesehenes eingetreten war. Nun, offenbar war das jetzt der Fall. Er las rasch die Notiz, die ihn zum Halt aufforderte. Kurz vor Erreichen des Autobahnkreuzes zur A3 sollte er die Autobahn verlassen und auf einem Waldparkplatz an der Straße Richtung Hainburg – noch so ein Ort, den er nicht kennenlernen wollte – auf weitere Anweisungen warten. Der Mann hoffte, dass es nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm. Ihm blieben noch knapp 50 Minuten zur Abgabe des Fahrzeugs und für den Check-in. Gepäck hatte er nicht viel. Eine längliche Stoffrolle mit einem schweren Inhalt hatte er bereits bei einem früheren Halt an einer Raststätte unauffällig im Unterbodenraum eines geparkten Wohnwagens einer dänischen Familie versteckt, die sich zu einem etwas längeren Mittagessen niedergelassen hatte. Mit etwas Glück würde der entsetzte Familienvater seine unheilvolle Fracht erst daheim finden – und wäre dann erst mal in Erklärungsnot, weil die Familie bis zu ihrem Ziel ohne Zweifel noch mehrere Stopps machen würde.

      Den Parkplatz fand er ohne Probleme – und fluchte still. Denn unter den Bäumen stand ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen. Ein dicklicher Mann mit buschigem Haar und einem T-Shirt, das ihn als Florida-Urlauber auswies, rollte gerade einen Schlauch an einer Seitenklappe zusammen. Als er den Neuankömmling erblickte, hob er mit freundlichem Lächeln die linke Hand und näherte sich. Nicht das auch noch, dachte der Mann, war sich jedoch bewusst, dass er jetzt so kurz vor dem Ziel keinen Fehler machten durfte. Offenbar hatte der Wohnmobilfahrer ein Problem. „Entschuldigung …“, fing der Dicke an, als er knapp drei Meter vom Auto entfernt war und der Mann bereits die Scheibe auf der Fahrerseite heruntergefahren hatte. Er wollte gerade antworten, Deutsch sprach er recht gut, eigentlich fließend, doch zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Mit unendlicher Lässigkeit fuhr die rechte Hand des Dicken scheinbar ohne jegliche Hast nach vorne. Das Letzte, was der im Auto sitzende Mann in seinem Leben sah, war die Mündung eines Schalldämpfers, der auf eine schwarz glänzende Automatik geschraubt war. Bevor zwei schnelle Schüsse ins Gesicht seinen Plan beendeten, in Kürze nach Paris zu fliegen, empfand er, begreifend, was gerade geschah, ein lähmendes Gefühl von Trauer. Trauer darüber, nun nie mehr seinen richtigen Namen nennen zu können, wenn er danach gefragt wurde. Ein Gefühl, das sogar seine Wut auf sich selber übertönte, einen tödlichen Fehler gemacht zu haben.

      Berlin – ein paar Monate früher

      Offenbar hatte der Mann, den er treffen sollte, ein recht ausgefallenes Hobby. Mit einem raschen Blick las York Westermann die Zeit von seiner Armbanduhr ab. Und offenbar nahm er es mit der Pünktlichkeit auch nicht so genau, denn er war bereits vier Minuten zu spät. Mit mäßigem Interesse schaute Westermann in die Regalreihen des Treffpunkts, den der Unbekannte ihm vorgeschlagen hatte: Die Abteilung für Atlanten und antike Karten in einer großen Buchhandlung in Berlin, Friedrichstraße. Menschenmassen. Touristen. Ein idealer Treffpunkt also, wenn man sich unerkannt begegnen wollte. Nur leider eben nicht diese Abteilung in dieser Buchhandlung, über der die Stille der kardiologischen Abteilung eines Krankenhauses schwebte. Nun, eigentlich war es die größte Buchhandlung in der Bundeshauptstadt. So groß wie ein Kaufhaus. Und als solches bezeichnete sie sich auch. Kein Ort, an dem Westermann sich gerne aufhielt. Auch sein Personenschutz hielt es für keine gute Idee, dass er sich hier alleine herumtrieb, ohne adäquate Bewachung. Möglichweise hatten sie ihm einen Personenschützer zur Seite gestellt, von dem er nichts wusste, Dienstanweisung hin oder her – manchmal hielten sich diese Typen einfach nicht an Anweisungen. Egal, seiner Meinung nach standen Staatssekretäre nicht so sehr im Rampenlicht der Manege des ‚Politzirkus’ Berlin‘, sodass sie auch mal ohne ein Trio dunkler Anzüge auf die Straße treten konnten. In diesem Fall hatte er von seiner Sekretärin dieses Treffen als ‚Privattermin‘ eintragen lassen. Offiziell suchte er ein Geschenk für Yvonne, seine Frau.

      Westermann war jetzt 45. Er hatte eine steile Karriere gemacht, als er ins Bundeskanzleramt eingezogen war. Das Desaster der dritten Auflage der Großen Koalition und die verschiedenen Machtwechsel von Angela Merkel über ihre glücklosen Nachfolger zu Bundeskanzler Bernd Magilsky hatten eine Menge neue Namen auf interessante Positionen gespült, auch ihn. Denn eigentlich war er im Herzen immer ein tapferer Parteisoldat der Basis geblieben. Berlin war nach wie vor nicht die Stadt seiner Wahl. Er wollte dahin, wo man noch wirklich etwas verändern konnte und nicht dort sein müssen, wo die Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, sich selbst zu feiern. Oder das nächste Start-up-Unternehmen, das Monate später wieder sang- und klanglos im Lauf der Geschichte untergegangen sein würde. Aber gut, er war dem Ruf seiner Partei gefolgt und hier war er nun. Eigentlich lief es auch hervorragend. Wenn er vor wenigen Tagen nicht diesen Anruf auf seinem Handy gehabt hätte. Auf seinem privaten Handy! Diese Nummer kannten nun wirklich nicht viele. Und die, die er im Vertrauen ausgequetscht hatte, konnten ihm nicht sagen, wer der Anrufer gewesen sein könnte oder in welchen Zusammenhängen dieser Anruf stand. Beunruhigenderweise wusste der Unbekannte genau, was er damals am Vorabend der Bundestagswahl gemacht hatte – und mit wem. Westermann versuchte, nicht weiter daran zu denken und wandte sich wieder den Büchern zu, um nicht zu sehr als Wartender enttarnt zu werden. Ein freundliches „Kann ich Ihnen helfen?“ der nächsten Verkäuferin hatte er bereits ebenso höflich abgebügelt. Ein merkwürdiges Hobby hatte dieser Typ, Westermann dachte es nochmals. Alte Reiseberichte und Atlanten, Neuauflagen von vergilbten Karten, Meere mit grässlichen Monstern, Kontinent-Umrisse, die den tatsächlichen Formen überhaupt nicht entsprachen. Westermann widmete sich einer historischen Seekarte aus dem 16. Jahrhundert, die offenbar Afrika zeigen sollte. Ohne Zweifel hatten den Kartografen die Kenntnisse über die Küsten jenseits des Kaps verlassen, denn der Indische Ozean war gerade mal ein dünnes Rinnsal, hinter dem direkt Indien und China folgten. Oder das, was zumindest die Landmassen Asiens andeuten sollte. Er merkte gar nicht, wie hinter ihm eine hagere Gestalt im dunklen Anzug stehen blieb, etwas unschlüssig ein Buch aufnahm und darin blätterte.

      „Herr Westermann?“, fragte eine Stimme mit angenehmem Timbre. Westermann zuckte bei der unerwarteten Nennung seines Namens zusammen und fuhr herum. Der Mann, dem er gegenüberstand, hatte etwas von der jovialen Verbindlichkeit eines Rezeptionsmanagers in einem renommierten Grandhotel: Freundlich lächelnd, jederzeit