Nicht jeder, das war dem Collector bewusst, wird durch die Arbeit, die er im Leben tut, besser; manche werden sichtlich schlechter. Der Magistrate hatte seine Pflichten im Auftrag der Company gewissenhaft erfüllt, aber sie hatten keine gute Wirkung auf ihn gehabt: Sie hatten ihn zynisch, fatalistisch und allzu verliebt in die Vernunft werden lassen. Auch sein Interesse für Phrenologie hatte eine schlechte Wirkung gehabt; es hatte den Determinismus, der seine Ideale untergrub, zusätzlich verstärkt, denn er glaubte offenbar, alles, was man tut, bemesse sich an der Gestalt des Schädels. In Anbetracht der beidseitigen Schädelverdickung über und hinter den Ohren des Collectors (hatte er einmal zu verstehen gegeben) konnte dieser nicht viel machen gegen seine Unfähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen … Obwohl man natürlich nicht »absolut sicher« sein konnte, ohne exakte Vermessungen vorzunehmen. Er hatte auch begonnen, etwas über eine Beule rechts und links vom Scheitel des Collectors zu sagen, die »Bestätigungsliebe« bedeute, doch als er endlich merkte, wie unwillig der Collector auf diese Gelegenheit zur Selbsterkenntnis reagierte, hatte er mit einem Seufzen abgelassen.
»Übrigens, Tom«, sagte der Collector, als die Gesellschaft auseinanderging, »vorhin fand ich etwas Seltsames auf meinem Schreibtisch im Büro. Vier Chapatis, um genau zu sein. Und gestern fand ich welche in einer Gesandtschaftstruhe. Was halten Sie davon?«
»Merkwürdig, ich habe auch welche gefunden.« Die beiden Männer sahen einander an, überrascht.
Bald hörten sie, dass Chapatis überall in Krishnapur auftauchten. Der Padre* hatte welche auf den Stufen vor der Kirche gefunden und angenommen, es sei eine Art abergläubische Opfergabe. Mr. Barlow, der in der Salzverwaltung arbeitete, hatte von seinem Wachmann welche überbracht bekommen. Mr. Rayne, der neben seinen Amtspflichten in der Opiumfabrik Ehrenvorsitzender des Mutton Club und des Ice Club von Krishnapur war, bekam sie von dem Wachmann gezeigt, der für die Sicherheit dieser beiden Vereine zuständig war. Es wurde bald klar, dass die Chapatis hauptsächlich unter Wachleuten kursierten; sie waren ihnen, anscheinend ohne dass sie wussten, weshalb, von Wachleuten aus anderen Distrikten mit der Aufforderung gegeben worden, mehr davon zu backen und sie dann an Kollegen noch anderer Distrikte zu verteilen. Bei der Befragung seines eigenen Wachmanns fand der Collector heraus, dass dieser es gewesen war, der die Chapatis auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte. Obwohl der Mann, seinen Anweisungen folgend, zwölf weitere Chapatis gebacken und weitergegeben hatte, hatte er es für seine Pflicht gehalten, den Collector Sahib* zu informieren, und sie ihm deshalb auf den Tisch gelegt. Er bestritt jede Kenntnis von den Chapatis in der Gesandtschaftstruhe und auf dem Portikus. Wo diese herkamen, fand der Collector nie heraus.
Etwas später wurde die Sache noch seltsamer. Die Chapatis tauchten nicht nur in Krishnapur auf, sondern an Stützpunkten in ganz Nordindien. Nicht nur der Collector fand das beunruhigend; eine Weile sprach niemand in Krishnapur von etwas anderem. Wieder und wieder wurden die Wachleute befragt, aber sie schienen wirklich keine Ahnung zu haben, welchem Zweck das dienen sollte. Manche sagten, sie hätten die Chapatis weitergegeben, weil sie es für einen Befehl der Regierung hielten, der Zweck sei gewesen, zu sehen, wie schnell Botschaften verbreitet werden konnten.
In Kalkutta ordnete die Regierung Ermittlungen an, aber es kam kein Grund für das Phänomen ans Licht und die Aufregung, die es verursachte, flaute innerhalb von ein paar Tagen ab. Man vermutete, es sei vielleicht ein abergläubischer Versuch, eine Choleraepidemie abzuwenden. Nur der Collector blieb überzeugt, dass sich Unruhen anbahnten. Er erinnerte sich dunkel, im Zusammenhang mit einer anderen Gelegenheit von einer ähnlichen Chapati-Verteilung gehört zu haben. Hatte es nicht vor der Meuterei von Vellore etwas Ähnliches gegeben? Er fragte jeden, den er traf, aber niemand hatte davon gehört.
Bevor er Krishnapur verließ, um seine Frau nach Kalkutta und zu ihrer Einschiffung nach England zu geleiten, fasste der Collector einen seltsamen Entschluss. Er ordnete an, »zur Entwässerung während des Monsuns« solle rund um den gesamten Gebäudekomplex der Residenz ein tiefer Graben in Verbindung mit einem dicken Erdwall ausgehoben werden.
»Den Collector scheint sein schwacher Punkt erwischt zu haben«, bemerkte der Magistrate leichthin gegenüber Mr. Ford, einem der Eisenbahningenieure, während sie schmunzelnd den Fortschritt dieser Arbeit überwachten.
II
Es ereignete sich in diesem Winter, dass George Fleury mit seiner Schwester nach Kalkutta kam und Louise Dunstaple zum ersten Mal erblickte. Man hoffte, aus ihrer Begegnung könne etwas werden, denn Fleury war nicht verheiratet und Louise, wenngleich gesellschaftlich nicht ganz ebenbürtig, stand nach allgemeinem Dafürhalten in der Blüte ihrer Schönheit … wahrlich, in ganz Kalkutta sprach man von ihr als von der Schönheit der kühlen Jahreszeit. Sie war sehr hold und bleich und ein wenig unnahbar; der eine oder andere hielt sie für »dumm«, wie es blonden Menschen manchmal so ergeht. Jedenfalls war sie unnahbar, zumindest in Fleurys Gegenwart, aber einmal, als er während eines Pferderennens einen Blick auf sie erhaschte, sah er sie keusch mit einigen jungen Offizieren flirten.
Dr. Dunstaple war zu dieser Zeit der zivile Wundarzt von Krishnapur. Doch irgendwie hatte er es eingerichtet, sich mit seiner Familie für die kühle Jahreszeit nach Kalkutta abzusetzen, während er Krishnapurs Zivilisten den süßen Gnaden von Dr. McNab überließ, der gerade den Posten des Regimentsarztes übernommen hatte und dafür bekannt war, einige der extremsten, alarmierend direkten Methoden der zivilisierten Medizin überhaupt zu vertreten.
Seinen Sohn Harry hatte der Doktor allerdings in Krishnapur zurückgelassen. Dank der Hilfe eines Freundes aus Fort William* war der junge Harry als Ensign bei einem der in Krishnapur (oder vielmehr in dem fünf Meilen entfernten Captainganj) stationierten Eingeborenenregimenter der Infanterie untergebracht worden, wo seine Eltern ihn im Auge behalten und aufpassen konnten, dass er sich nicht verschuldete. Harry, der inzwischen Leutnant war, blieb sogar recht gern zurück, als seine Familie, einschließlich der zwölfjährigen kleinen Fanny, fortging, um sich in Kalkutta zu vergnügen; als »Militär« neigte er dieser Tage dazu, mit Herablassung auf Zivilisten zu blicken, und Kalkutta war zweifelsohne voll von diesen Gesellen.
Umgekehrt war es Mrs. Dunstaple nicht unrecht, dass ihr Sohn in Krishnapur zurückblieb, auch wenn das bedeutete, ihn nicht an ihrer Seite zu haben. Harry war in einem empfindlichen Alter, und in Kalkutta wimmelte es von ehrgeizigen Müttern, die nur darauf aus waren, junge Offiziere wie Harry dem Charme ihrer Töchter auszusetzen. Ach, Mrs. Dunstaple wusste nur allzu gut, dass Indien voller junger Leutnants war, die ihre Karrieren gleich am Anfang durch desaströse Ehen ruiniert hatten. Doch diese Überlegung, was Harry betraf, hinderte sie nicht daran, auf Gelegenheiten zu hoffen, um Louises Charme geeigneten jungen Männern vorzuführen. Im Osten verfliegen die roten Wangen eines Mädchens so schnell, so unglaublich schnell (obwohl dies, streng genommen, auf Louise nicht zutraf, da ihre Schönheit von der blassen Sorte war).
Die Saison war außerordentlich erfolgreich gewesen, und nicht nur für Louise (die sich allerdings in Sachen Anträge als schwer zufriedenzustellen entpuppt hatte). Es hatte viele glänzende Bälle und ungewöhnlich zahlreiche Hochzeiten und andere Vergnügungen gegeben. Überdies war der Turf, in den letzten Jahren im Niedergang begriffen, wunderbar wiederaufgelebt. Natürlich sah man wohl beim Planters’ Handicap dieselben Tiere laufen wie beim Merchants’ Plate oder beim Bengal Club Cup, aber die Saison zeichnete sich durch bemerkenswerte Pferde aus, denn es war die Ära von Legerdemain, Mercury und der großen Stute Beeswing. Aber die kühle Jahreszeit neigte sich dem Ende zu, als Fleury und seine Schwester Miriam eintrafen, und in den Gesellschaftszimmern von Kalkutta sehnte man sich nach neuen Gesichtern wie den ihren (all die alten Gesichter waren mittlerweile so vertraut, dass man sie kaum noch sehen konnte). Im Übrigen war bekannt, dass ihr Vater ein Direktor der Company* war, mit allem, was das im Indien der Handelskompanie an gesellschaftlichem Ansehen bedeutete. Es ging auch das Gerücht, der junge Fleury sei kaum eine halbe Stunde in Indien gewesen, als Lord Canning* ihm schon eine Zigarre angeboten habe. Kein Wunder, dass die Nachricht von seiner Ankunft im Haus der Dunstaples in Alipore für einige Aufregung sorgte.
Ungeachtet der sehr unterschiedlichen Ränge, die sie jetzt in der Gesellschaft einnahmen, waren Dr. Dunstaple und Fleurys Vater vierzig Jahre zuvor miteinander