In der Nacht vor dem Finale schlief ich nicht gut. Am Morgen des Kampfes joggte ich, machte ein kleines Work-out und anschließend einen Mittagsschlaf. Teddy Atlas und ich aßen noch eine Kleinigkeit, bevor wir in die Arena fuhren. Im Umkleideraum wärmte ich mich noch mit ein wenig Schattenboxen auf, bevor die Kampfrichter kamen, um meine Hände zu kontrollieren. Dann ging man einfach da raus. Man konnte den Ring vom Korridor aus sehen, und so sah ich mir die vorherigen Kämpfe an. Ich tat das wahnsinnig gerne, das brachte mich so schön in Stimmung. Dann war ich an der Reihe. Ich kämpfte gegen einen großen mexikanischen Jungen namens Joe Cortez. Ich wusste nicht viel über ihn, außer dass er ebenfalls alle seine Gegner k. o. geschlagen hatte. Er hatte mehr Kämpfe (seine Bilanz war 13:4), aber ich war besser in Form. Ich sah so aus, als wüsste ich, wie man boxt.
Mit Zuversicht stieg ich in den Ring. Ich hatte schon gegen erwachsene Männer geboxt, und für mich war er ein Kind. Die Glocke ertönte und ich ging zum Angriff über. Mit einer Linken beförderte ich ihn in die Seile und nach einer schnellen Kombination erwischte ich ihn mit einer kurzen Rechten am Kinn, und er ging k. o. – nach nur acht Sekunden. Damit hatte ich einen Rekord der olympischen Jugendspiele aufgestellt. Ich sprang in die Luft und fing wie ein Schwachkopf an zu weinen. Dabei fühlte ich mich richtig gut. Ich nahm den Pokal entgegen, dann fuhren wir zurück zum Hotel und riefen Cus an. Er war ganz aufgeregt, nannte mich „Champion“. Einen Rekord mit dem schnellsten Knock-out der Geschichte aufzustellen, tat nicht weh.
„Ich werde mich heute Abend ausruhen“, sagte ich ihm. „Ich will nicht, dass mir der Kopf noch mehr anschwillt.“
Als wir zurück nach Catskill kamen, hatte Cus die Stadt dazu überredet, ein großes Banner aufzuhängen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren. Und außerdem gab es zu Hause auch noch einen leckeren Kuchen, der auf mich wartete. Cus aß seinen Kuchen gerne mit Eiscreme. Der Kampf wurde eine Woche später auf ESPN im Fernsehen ausgestrahlt und Cus’ Freunde bei der Lokalzeitung wiesen in ihrem Blatt auf die Aufzeichnung hin. Wir machten eine Viewing-Party im Haus, und Cus lud alle Kids aus der Sporthalle mit ihren Eltern und einige Ortsansässige ein. Jeder freute sich darüber, dass die Stadt im Fernsehen erwähnt wurde, und Cus kündigte natürlich an, dass ich sie landesweit bekannt machen würde.
Ich wurde zu einem kleinen lokalen Helden. Auch in der Schule wurde ich beliebter. Ortsansässige kamen auf der Straße auf mich zu und gaben mir einen Klaps auf den Rücken. „Hey, du wirst eines Tages der Champ sein“, sagten sie. In Broolyn löste ich ähnliche Reaktionen aus, als ich zu Besuch dorthinkam. Wildfremde sprachen mich an: „Hey, du bist Mike Tyson. Ich hab dich im Fernsehen gesehen.“ Ich war noch ein Kind und es war überwältigend, dass Boxfans im ganzen Land wussten, wer ich war.
Ein paar Tage nachdem ich zurück war kam Cus in mein Zimmer. „Du musst dir unbedingt ein Hobby zulegen“, meinte er, „nicht jeder Tag wird so aufregend werden wie die letzte Zeit, wenn du erst mal Champion bist. Es wird dazwischen auch langweilige Tage geben. Du musst etwas haben, um dich abzulenken.“
Als Geschenk für meinen ersten Sieg bei den olympischen Jugendspielen erhielt ich von ihm Geld, um einen Taubenkäfig zu bauen und auszustatten. Cus hatte damals in der Bronx selbst schon immer Vögel gehabt, und er drängte mich dazu, in Catskill Tauben zu halten. Cus war ein weiser Mann. Ich schlug eine Menge Zeit mit diesen Vögeln tot. Ich liebte meine Tauben.
Als ich vom Titelkampf zurück war, stockte Cus mein Trainingsprogramm auf. Und dabei drehte sich alles nur ums Sparring; vom Laufen hielt er nicht viel. „Zeitverschwendung“, fand er. „In Gottes Namen, du wirst im Ring niemals laufen müssen, du musst nur boxen!“ Es ging ihm jeden Tag nur ums Sparring und ums Kämpfen. Ich hatte mit Bobby Stewart gesparrt, wann immer er vorbeikommen konnte, und dann mit Kids aus dem Ort, aber ich war zu viel für die Kerle aus der Nachbarschaft. Dann fing Cus an, Sparringspartner anzuheuern, aber viele dieser Typen blieben nicht – ich war zu schnell und zu grob für sie. Cus wollte, dass ich beim Sparring immer alles gab. Wenn ich einen Typen schlug, bumm, und ihn dabei verletzte, dann bekam er erst recht noch eins übergebraten – bumm-bumm-bumm-bumm-bumm-bumm! Ich hörte nicht auf, bis er am Boden lag. Als ich besser wurde, hatte ich zwei bis drei Sparringspartner pro Tag.
Ein paarmal kam ein neuer Kerl zu einer Session, fuhr aber schon mit der nächsten Bahn wieder zurück und ließ sein ganzes Zeug im Haus. Einmal stöberten Tom Patti und ich den Sachen eines dieser Typen herum und fanden dabei eine saugeile Lederjacke und coole Krokodillederschuhe. Dieser Typ rief noch mal an und sagte, seine Schuhe wären tausendfünfhundert Dollar wert und die Lederjacke drei Riesen, die Klamotten müsse er zurückhaben. Tommy und ich saßen am Tisch und aßen gemütlich weiter, während Cus sagte: „Wir wissen nichts von irgendwelchen Taschen mit Klamotten. Als du gegangen bist, hast du alles mitgenommen.“ Cus war wirklich angepisst, weil der Typ gegangen war. Wenn du so etwas tatest, hattest du bei Cus verschissen bis in die Steinzeit! Cus akzeptierte es, wenn jemand sagte: „Hey, Cus, ich fühle mich nicht gut, mit tut heute alles weh, ich glaube nicht, dass ich kommen kann“, aber nicht, wenn einer mittendrin ging. Wenn ein Boxer darüber klagte, dass ihm etwas wehtat, massierte er ihn und sagte dann zu ihm: „Mach weiter.“ Er trainierte die Sparringspartner, um es mir schwerzumachen. Wenn ich einen Fehler machte, sagte er ihnen: „Hey, wenn er diesen Fehler macht, schlägst du den Punch so hart du kannst. So hart du kannst, verstehst du?“
Ich ging in den Ring und Cus stand an der Absperrung des Rings und hielt sich am obersten Seil fest. „Beweg deinen Kopf“, bellte er, „Hände nach oben, beweg deinen Kopf. Hände nach oben beim Ausweichen.“ Wenn eine Runde zu Ende war, ging ich zurück in die Ecke und Cus gab mir noch ausführlichere Instruktionen, wie: „Stell dich so nahe zu ihm, dass er dir keinen Kinnhaken verpassen kann.“ Ich war dabei, einen neuen Sparringspartner einzuarbeiten, und während wir boxten, schrie er zu Cus hinüber: „Harter Junge, Cus.“ – „Hab ich dir doch gesagt.“ Cus strahlte. „Ich wollte nicht, dass du ’ne Überraschung erlebst. Er weiß, wie man kämpft, und er weiß, worum es geht.“
Immer wenn eine Session zu Ende war, ging ich rüber, um meine Boxhandschuhe aufzuschnüren zu lassen. „Sie sagen, du bist stark, aber sie sagen nicht, wie geschickt du bist. Wenn du nicht geschickt wärst, würdest du viel öfter eins drauf bekommen“, sagte Cus. – „Ich habe mich heute nicht so ins Zeug gelegt“, erwiderte ich. Ich war die ganze Zeit unzufrieden mit mir selbst. „Doch, das hast du“, gab Cus zurück. „Du wirst es vielleicht nicht verstehen und nicht zu schätzen wissen, was hier passiert ist, aber wir schon. Jeder von uns hier.“
Cus sah sich für gewöhnlich mit einem seiner Freunde meine Sessions an. Er feuerte mich an, und dann flüsterte er seinen Freunden irgendetwas zu wie: „Ich habe aus ihm einen starken Kerl gemacht, aber in anderer Hinsicht muss er noch stark werden. Er ist nicht so zäh oder so hart, wie die Leute ihn einschätzen. Wenn sie mich sehen, sagen sie: ‚Junge, Junge, du hast diesen Tyson. Er liebt es, zu kämpfen. Er liebt es, Leuten Schmerzen zuzufügen. Er fürchtet sich vor nichts.‘ Das stimmt so nicht, aber wenn wir mit ihm durch sind, wird er auf jeden Fall so aussehen.“
Cus war der Ansicht, dass ich nun bereit wäre, mit Profis zu sparren. Fünf Amateurkämpfe und er lässt mich schon gegen Profis kämpfen! Es kam, wie gewöhnlich, sehr kurzfristig. Frank Bruno kam einmal vorbei und Cus musste in der Schule anrufen, um mich aus der Klasse zu holen. „Es gibt einen Notfall hier im Haus. Jemand ist krank geworden und Mike muss nach Hause kommen“, sagte er, und ich durfte gehen. So konnte ich mit Bruno sparren.
Von all meinen Sparringspartnern mochte ich Marvin Stinson am liebsten. Er war ein hochtalentierter Amateurboxer, der gegen den großen Kubaner Teo Stevenson gekämpft hatte und auch gegen all die großartigen Russen. Zu dieser Zeit war er Larry Holmes’ Haupt-Sparringspartner. Cus verlangte von mir, in Holmes’ Camp zu gehen um zu trainieren, aber der weigerte sich: „Ich trainiere nicht mit Amateuren.“ Weiterer Treibstoff für Cus’ Hass auf Holmes. Nachdem ich eine Woche lang mit Marvin trainiert hatte, fragte Cus: „Was meinst du?“, und Marvin sagte: „Er könnte ohne Weiteres gegen Larry boxen.“
Marvin war solch ein großartiger Bursche. Durch das Sparren mit ihm erreichte ich ein ganz anderes Level. Zuerst war er sehr schwer zu treffen, und ich musste mich erst an ihn gewöhnen, bevor ich mich auf ihn einstimmen und punkten konnte. Er