Interessant an den Sparks: Neben dem Sänger Russell spielte Bruder Ron scheinbar eine Nebenrolle. Doch echte Fans wie Gore wussten nicht nur dessen exaltiertes Auftreten zu schätzen (vor allem natürlich sein legendäres Schnurrbärtchen), das John Lennon beim Anblick der Band in der TV-Show Top Of The Pops zu dem Ausruf animierte: »Jesus, die haben Hitler in der Sendung!«), sondern auch seine musikalischen Visionen, die er uneitel im Schatten seines singenden, im Scheinwerferlicht stehenden Bruders als heimliches Mastermind verwirklichte. Gore war früh klar: Um seine Rolle gut zu spielen, muss ein Chef nicht unbedingt singen. Auch in seiner ersten Band nutzte Gore das Mikrofon nur für gelegentliche Backing Vocals; ansonsten spielte er bei Norman & The Worms die begleitende Akustikgitarre. Die Stimme der Gruppe gab sein Schulfreund Philip Burdett. In einem frühen Feature über Depeche Mode beschrieb ein Journalist des Magazins Smash Hits, der das Duo und dessen spätere Backingband um 1978/79 live sah, Norman & The Worms als »eine am Westcoast-Sound orientierte Band, die ›nette Lieder‹ spielte«.
Die meisten davon stammten aus der Feder Burdetts, der bis heute Teil des Songwriter-Circuits rund um London ist (der Besuch seiner Seite auf MySpace gibt einen Eindruck davon, welchem musikalischen Stil sich Norman & The Worms gewidmet haben). Eine der wenigen Gore-Kompositionen hieß See You – und kam einige Jahre später auf ganz andere Weise nochmals zu Ehren. Auch die spätere Depeche-Mode-Nummer A Photograph Of You entstand zu dieser Zeit – ein recht naives Liebeslied, das Gore vielleicht seiner ersten Freundin Anne Swindell widmete, die wie er auf die St. Nicholas School ging. Dort drückte auch ein schlaksiger Kerl namens Andy Fletcher die Schulbank, dessen Familie von Birmingham nach Basildon gezogen war. Er und sein Klassenkamerad Gore bauten eine Beziehung auf, die das Wort »Freundschaft« nur zu einem Teil charakterisiert (was aber nichts damit zu tun hat, dass Fletcher zuvor mit Anne Swindell zusammen war).
Auf eine Art ergänzten sich die beiden: Fletcher war lange nicht so schüchtern wie Gore und Ende der Siebziger sogar ein fast missionarisch gesinnter Christ mit festem Willen, andere von seinem Glauben zu überzeugen. Außerdem war er in Basildon gut vernetzt und spielte früh in Bands. In den Anfangstagen seiner Beziehung zu Gore gab Fletcher den Ton an. Er war es, der nach der Schule einen Job in London annahm. Gore zog nach, denn für den Gang an die Universität fehlte es ihm an Motivation. Fletcher machte ihn zudem mit der Clubszene in und um Basildon vertraut. Bis dahin war Gore abends kaum aus gewesen; später sagte er, er habe als Teenager unter der »Anschauung eines Vorstadtlebens« gelitten. Und Fletcher hatte auch die entscheidenden Kontakte, die Gore schließlich in die Band führten, die bis heute sein Leben bestimmt. Martin Gore und Andy Fletcher: zwei Basildon Boys, die eigentlich kaum mehr eint, als dass sie beide aus einer Stadt kommen, die es zur Geburt ihrer Eltern noch gar nicht gab. Und die bis heute dennoch so stark miteinander verbunden sind, dass keine der vielen Turbulenzen, die sie zusammen erlebt haben, sie auseinanderbringen konnte.
Warum Gore der beliebteste Kerl in Basildon war, wer ihn dazu brachte, seinen Job bei der Bank zu kündigen, und was ihn in einer Juni-Nacht 1981 vom Schlaf abhielt.
Martin Gores Eintrittskarte für das Line-up der Band Composition Of Sound aus Basildon war ein CS-5-Synthesizer der Firma Yamaha. Kein High-End-Gerät, eher ein Mittelklassemodell für halbwegs ambitionierte Einsteiger. Der Synthesizer kostete ihn 1979 200 britische Pfund, die Gore von seinem Gehalt als Angestellter der NatWest-Bank in der Londoner City bezahlte. Der Kauf war eher spontaner Natur; zumindest hatte Gore sich im Vorfeld nicht näher über die Marktlage informiert. »Es war das erste Mal, dass ich überhaupt einen Synthesizer gesehen hatte. Ich wusste nichts über sie und fand einen Monat lang nicht einmal heraus, wie man den Sound verändert«, gestand er 1982 einem Magazin für Musik und Technik. Doch Anfang der Achtzigerjahre ging es in England nicht so sehr darum, wie man einen Synthesizer bedient und welche Möglichkeiten so ein Gerät hat. Entscheidend war, einen Synthesizer zu besitzen – und da war Gore in der zu dieser Zeit durchaus vitalen Musikszene des Städtchens Basildon einer der Ersten.
Die Sache mit dem Synthesizer sprach sich herum. Über Gores Schulfreund Andy Fletcher, der ebenfalls in der Londoner City jobbte, bekam der ein Jahr ältere Vince Martin Wind von der Sache, ein Gelegenheitsjobber für schlecht bezahlte Aufgaben, der sich vorgenommen hatte, an einer Popkarriere zu basteln – und sich später in Vince Clarke umbenannte, damit er trotz Konzertgagen weiterhin als Mr. Martin Arbeitslosengeld kassieren konnte. Er spielte zusammen mit Fletcher bei Composition Of Sound, war für das Songwriting zuständig und hatte große Lust, nach allerhand Versuchen mit Bands in herkömmlicher Besetzung Gitarre, Bass und Schlagzeug (darunter von 1977 bis 1979 No Romance In China, ebenfalls mit Fletcher) etwas anderes zu probieren. Also bat er Gore in seine Band und ging richtigerweise davon aus, dass der nicht Nein sagen würde. Das Motiv, warum der zurückhaltende Gore der richtige Mann für Compositon Of Sound war, verschwieg Clarke auch damals nicht. »Wir nahmen ihn in die Band, weil er einen Synthesizer besaß. Das war der Grund – und sicher nicht seine aufgeschlossene Persönlichkeit«, so Clarke rückblickend. Es gab damals in Basildon ein wahres Geschacher um den jungen Mann mit dem Synthesizer. Clarke: »Es ging darum, ihn gegenseitig den anderen Bands auszuspannen.«
Fühlte sich Gore vom Interesse an seiner Person geschmeichelt? Oder war er beleidigt, weil er ja auch merkte, dass es nicht um ihn ging, sondern um seinen Yamaha CS-5? Weder – noch. Clarke: »Martin, in seiner unverbindlichen und zurückhaltenden Art, tat das, was die Leute von ihm verlangten.« Gore war kein Typ, der Vorgaben machte, Bedingungen stellte oder Grundsatzdiskussionen anstieß. Es stellte ihn lediglich zufrieden, seinen neuen Synthesizer sofort einsetzen zu können – jedoch ohne auch nur ansatzweise das beachtliche Klangspektrum des Geräts auszureizen. Gore war damals kein Tüftler und Bastler. Sein musikalisches Interesse fokussierte sich auf Melodien; er liebte die Düsseldorfer Pioniere Kraftwerk für die Art, wie sie simple und eingängige Melodien auf rein elektronischer Basis erzeugten. Generell galt Gores Vorliebe in dieser Zeit den Minimalisten. So hatte er auch ein Faible für Jonathan Richman, der mit seinen Modern Lovers auf der Basis einfacher Gitarrenriffs aufregende Musik spielte.
Kraftwerk und Jonathan Richman waren in Gores Augen überzeugende Antworten auf die Frage, ob es eine intelligente Art von Rock- und Popmusik geben kann, die nichts mit den epischen und komplexen Entwürfen der Progrock-Bands zu tun hat. Er selbst hatte nun einen Synthesizer und probierte, es seinen Idolen gleichzutun. Er begann als Teil von Composition Of Sound damit, zusammen mit Clarke und Fletcher eine neue Art von Band zu entwickeln: eine Gruppe ohne alles, was bis in die Siebzigerjahre hinein fester Bestandteil einer Rockband war. Keine Gitarren, kein Schlagzeug. Nur einen Bass gab es zu Beginn, den Fletcher spielte. Gore fand spätestens 1980, es sei nun Zeit für eine neue Musikrichtung. Schließlich galt es die zwei Versprechen einzulösen, die Punk der britischen Jugend gegeben hatte. Erstens: Jeder kann Musik machen. Zweitens: Jeder kann Musik machen, wie er möchte. »Nach Punk fanden wir, dass Musik nicht zu dem alten Rockband-Format zurückkehren dürfe«, gab Gore später zu Protokoll, »und elektronische Musik war, für unsere Begriffe, der Schritt nach vorne. Es erschien uns nur logisch, eine Synthesizer-Band zu sein. Etwas Neues zu tun – und sich nicht wieder dem Bandformat mit Schlagzeug, Bass und Gitarre zu widmen.«
1980 war Gore noch immer ein Amateurmusiker; ein junger Bankangestellter, der in seiner Freizeit in Bands spielte. Neben seinem Engagement bei Composition Of Sound war er Mitglied des kurzlebigen Projekts French Look. Auch hier war vor allem sein Synthesizer gefragt; obligatorisch waren die rein zufälligen Töne, die Gore zu Beginn der Konzerte mit dem ansonsten sinnlosen »Sample and Hold«-Effekt seines Yahama CS-5 in den Raum warf. Teenager, die in Bands spielen, gab es auch in dieser Zeit in Großbritannien zu Tausenden: Jungs, die tagsüber die Stunden in öden Berufen zählten und schon auf der Rückfahrt mit der Bahn in die Suburbs zu träumen begannen. Doch Compositon Of Sound hatten den anderen Hobbybands etwas voraus: Sie hatten ein Konzept. Man wagte einen Schritt nach vorne, verzichtete auf Gitarren, setzte auf Synthesizer. Damit unterschied man sich von den vielen anderen Teenagern, die sich an Fender-Gitarren die Finger blutig spielten und in ihre Setlists möglichst viele Gassenhauer einbauten, damit das Publikum in den Pubs nicht übellaunig wurde. Gore war nicht mehr der Gitarrist