Zinnobertod. Reinhard Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard Lehmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Ужасы и Мистика
Год издания: 0
isbn: 9783969010174
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sprichwörtlich auf ihn zu. Alle Achtung. Der Kerl zog das Interesse der Kaffeetrinker, Kuchenesser und Raucher an den Tischen auf sich. Seine massige Gestalt schob sich unaufhaltsam auf seinen Platz zu. Er hatte die Hände ausgebreitet. Das Gesicht von der Anstrengung gerötet und mit Schweißperlen auf der Stirn, stoppte er den Schnellgang. Sein Atem glich dem austretenden Dampf aus einem defekten Rohr. Heiß und zischend schlug er Lorenz ins Gesicht.

      Die Sekundenwahrnehmung endete mit der dominanten Aussage: »Ah, Sie sind der Gast des Bürgermeisters. Der Herr Kriminaloberkommissar vom LKA Magdeburg. Treffer, stimmt´s? Scheiß Hitze heute. Na egal, ein herzliches Willkommen in der Stadt der Mythen.« Der gedrungene Vierziger schob zur Begrüßung die Hand vor. »Ich bin Wilhelm Feist, Immobilienmakler, Mitglied im Harzklub. Auf Bitten des Ratsherrn der zuständige Ansprechpartner, Ihr Führer durch den Harzer Mythendschungel.«

      »Korrekt! Ihre Annahme stimmt.« Dem folgte sein stummes Lächeln. »Ich würde heute besser schlafen, wenn unsere Verabredung mir weiterhilft. Verehrter Herr Feist, trinken wir einen Kaffee zusammen? Kommen Sie. Setzen Sie sich.«

      Die Antwort erstaunte ihn.

      »Habe ich Ihre Erlaubnis, das da zu sehen?«, tippte der Begleiter mit dem Finger in Richtung der Ausbeulung unter der Sommerjacke.

      Lorenz grinste unverhohlen. »Was ist derart wissenswert? Bin ich bekleckert, ein Kaffeefleck? Ist ja ein merkwürdiger Empfang.«

      »Äh, äh, Verzeihung. Hab niemals eine richtige Polizeikanone in der Praxis gesehen. Ich frage mich, ob das die Gelegenheit ist. Problem damit?«

      »Nein! Bin gespannt, wie Sie die Antwort interpretieren. Wenn die Waffe hilft, Gefahr von mir abzuwenden, beflügelt das aus Ihrer Sicht Zufriedenheit? Ergo, in fremde Hände geben funktioniert nicht. Die Pistole ist wie eine Lady, auf Befingern reagiert sie kopflos.«

      »Klar. Akzeptiert!«

      Irritiert fuhr sich Wilhelm Feist über das dünne Kopfhaar. Die Gesichtshaut wechselte innerhalb von Sekunden die Farbe. Aschfahl zeigte sie sich grade.

      »Verzeihung, hab mich blöd benommen. Bitte, das bleibt hoffentlich unter uns, Herr Oberkommissar.«

      »Hmm, hab es dauerhaft zurückgedrängt. Scheiß Idee, Ihr Interesse. Okay, beschließen wir das Thema. Auf jeden Fall ist das Vorkommnis an der Teufelsbrücke ein unheilvolles Omen. Ohne Aufsehen gerät die Sache nicht in Vergessenheit.«

      »Diese Vorstellung trage ich mit, Herr Lorenz. Hier ist mein Vorschlag. Sie hatten einen langen Weg in den Harz. Wechseln wir den Gesprächsort. Es ist heiß. Bitte folgen Sie mir. Der Weg da hinten rund um die Skulpturen ist entspannend. Die Wasserspiele bringen Abkühlung.« Zugleich wies er mit einer Hand in diese Richtung, um fortzufahren: »Ich hoffe, Sie nicht zu überfordern. Schauen Sie.«

      Lorenz verzog die Lippen. Er begriff nicht, warum sich dieser Wilhelm hinter einer Fassade versteckte. Wovor, das blieb ein Rätsel. Zumal sie sich nicht kannten. »Vorsicht!«, zischte er denkbar knapp. »Das ist nicht grade cool.«

      »Was ist los?«, hob der Gastgeber an, um zugleich fassungslos die Luft auszustoßen. »Ich beabsichtige, Ihnen nichts anderes als die nackte Schönheit der Figuren aus der germanischen Götterwelt nahebringen. Die könnten Teil der Recherchen sein. Vergessen? Sie verweilen auf dem Boden einer Harzer Mythenstadt.«

      Lorenz guckte erstaunt auf. »Ist das denn nicht gewollt? Droht uns hier Gefahr? Von dem imposanten Kerl mit dem Speer dort drüben?«

      »Nein, um Himmels willen, das ist Wotan, der höchste Germanengott«, traf ihn unbekümmertes Lachen. »Leisten wir ihm Gesellschaft. Er trinkt aus dem Brunnen der Weisheit, die Zukunft vorhersagend. Ein Grund, wie mir scheint, dem Harz einen Besuch abzustatten. Liege ich falsch?«

      »Sie haben akkurat den Punkt getroffen«, fuhr es knapp aus seinem Mund. »Herr Feist, wenn ich des Philosophierens wegen angereist bin, würde ich es Sie wissen lassen. Klar?«

      »Hmm, Pech, das nennt man angearscht. Hab ich verdient, den Tadel.« Er wandte den Blick ab, schien ins Leere zu starren. Mit gesenktem Kopf fuhr er in bewusst demütigem Ton fort: »Nochmals, äh, äh, äh, tut mir leid«, krächzte er hustend.

      Lorenz lachte. »Sie sind ein komischer Kauz. Das die Knarre eine solche Anziehungskraft hat, gottverdammt, ist mir partout nicht bewusst. Sie haben´s versucht. Strich drunter. Erklären Sie mir, wie es sich mit den Proportionen der Skulptur verhält. Wo bleibt das Geheimnisumwobene? Was hat es mit dem gigantischen Kerl auf sich?«

      »Sie sprechen von Wotan mit dem Speer?«

      »Ja! Das sind Ihre Worte.«

      Feist zuckte die Achsel. »Klingt erhellend. Hab das nie in der Form betrachtet. Ich frage Sie, sind Sie denn bereit, dafür ein Opfer zu bringen?«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Symbolisch! Wotan gab ein Auge. Sind Sie ebenfalls für einen solchen Schritt aufgeschlossen?«, versuchte er schmunzelnd den Blick des Kripobeamten einzufangen. Der zeigte sich baff, im gewissen Sinne vom Ansturm der Worte überfordert. Hinzu kam das Gefühl, dass sich Feist auf unerklärliche Art versteckte. Die Angst, dass er dem auf die Spur kam, erzeugte einen erbärmlichen Gestank. Der Gedanke verlor sich abrupt, weil sein Gastgeber grade sagte: »Oberkommissar, ich bin der Auffassung, Sie bedürfen dringend der beiden Raben Hugin und Munin. Die Vögel berichten der Legende nach mit ihren täglichen Erkundungsflügen über das Geschehen in der Welt.« Er sah auf, grinste frech und redete weiter. »Ich helfe, soweit es mir machbar erscheint. Staunen Sie! Es verwundert mich nicht, wenn Sie erschrocken um Rat bitten und beten, um abschließend dem Fest der Verbrüderung zu frönen. Habe ich den Nerv getroffen?«, sprudelte es aus ihm in einer Art Befreiungsschlag heraus.

      »Oh Gott, was war das denn? Eine Überraschung wie ein Picknick im Grünen?«, lachte Lorenz entspannt auf. »Das ist eine dummdreiste Vorstellung. Wer hat Ihnen die eingeflüstert? Poesie ist nicht meine Sache. Mich reizt, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Skelett und dem Vermissten gibt. Wie sehen Sie das? Wen suche ich? Einen Mörder? Oder hat sich derjenige aus freien Stücken aus dem Leben gestohlen?«

      »Entschuldigung, Oberkommissar, wenn ich Sie bedrängt habe. Setzen wir unseren Disput im Rathaus fort. Der Bürgermeister erwartet Sie. Meine Aufgabe ist es, die Harzstadt zu vertreten. Nebenbei bemerkt, die Raben sind auf eine gewisse Art eingenordet. Dutzende verbundene Seelen sind aufgefordert, Informationen zu beschaffen. Das ist, zumindest symbolisch betrachtet, ihre Passion. Spaß beiseite, sehen Sie sich um. Kommen Sie! Den Mörder finden Sie früh genug. Ich verspreche Ihnen, es Sie wissen zu lassen, wenn die Raben mir was soufflieren.«

      Lorenz strich sich mit der Hand über das Gesicht. War das ein Signal dafür, sein aufgebauschtes Gehabe wegzuwischen? Nein, zumindest verschaffte es ihm Millisekunden des Nachdenkens. Der Gastgeber schob sich grade ins rechte Licht. Er buhlte um seine Gunst. Die Herausforderung erforderte eine Reaktion.

      »Ist ein weiser Spruch. Fangen wir mit dem ersten Schritt an. Greifen Sie zu. Meine Hilfe kostet nichts«, sagte er mit den Achseln zuckend. Stracks schob er nach. »Alleingang hat keinen Sinn. Die Alteingesessenen legen Wert auf eine effiziente Vernetzung. Zum gegenseitigen Vorteil, egal ob sie in irgendeiner Form gläubig oder Freidenker sind. Sie geben nichts preis ohne speziellen Grund, Herr Lorenz.«

      Der sah in ein Gesicht, das einer undurchdringlichen Maske ähnelte. Darin fuhr der Mund unablässig fort zu reden.

      »Wissen Sie, es ist Zeit, zu akzeptieren, weshalb Sie mich zum Bürgermeister begleiten. Ich bin hierher gereist, um Ihr Städtchen von einem üblen Omen zu befreien. Meine Ausbildung hilft mir, Täter zu entlarven. Das biete ich Ihnen an. Hilfe anzunehmen betrachte ich, wie ein Geschenk zu beanspruchen. Mit Anstand und Würde. Hätte ich einen Wunsch offen, beträfe der die Entscheidung, hier zu leben. Dafür gäbe ich alles, was Ihnen jeden Tag zufliegt.«

      »Sie scheinen ein prima Kerl zu sein. Egal. Ich hätte mit einer wärmeren Begrüßung gerechnet. Ein gemeinsames Bekenntnis zum Beispiel. Vorschlag, erlauben Sie mir, Sie mit Ihrem Namen anzusprechen? Ehe ich jedes Mal Kriminaloberkommissar ausspreche, ist Weihnachten.«

      »Einverstanden!