Für das kybernetische Denken und Handeln der Kirchen dürfte es angebracht sein, die zukünftige Schweiz als grenzübergreifende urbane Siedlung vom Elsass bis zur Lombardei, vom Bodenseeraum/Vorarlberg bis zum Bassin lémanique anzunehmen, durchsetzt mit einigen grossen Naturparks (z. B. Alpengebiet), die zur Erholung genutzt werden können. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie sich zügig verabschieden von der bisherigen kleinräumigen Partikulartätigkeit in bestehenden gemeindlichen und landeskirchlichen Grenzen. Auch angesichts von knapper werdenden personellen und finanziellen Ressourcen drängt sich eine neue Grundstruktur auf, ein neues Verständnis von territorial orientierter Arbeit in einem urbanen Raum. Und darüber hinaus ein Verständnis von kirchlicher Arbeit in einander überlagernden, aber genuin zusammengehörenden, gleichwertigen Bereichen (vgl. unten, 4.). Natürlich wird das ein längerer Prozess sein, der allen Beteiligten viel Flexibilität abverlangt, weil er zunächst unter Aspekten des Verlustes, der Preisgabe von Vertrautem, des Traditionsbruchs, der unerwünschten Anpassung an Einflüsse von aussen gesehen werden wird. Den Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern in Gemeinden und Kirchen ist zu wünschen, dass sie überzeugende Konzepte dazu vorlegen können und den langen Atem haben, die anstehenden Verfahren durchzuziehen – mit dem Ziel, die Kirchen zukunftstauglich zu machen, damit ihre Botschaften auch in einer veränderten Welt unverändert aktuell und befreiend bleiben und neu werden können.43
2. Religiosität
Im Rahmen der boomenden Zukunftswissenschaften, die sich in der Hochkonjunkturphase der sechziger und siebziger Jahre herausgebildet haben, wurden auch Szenarien für die religiöse und kirchliche Situation entwickelt. Sie sagten relativ eindeutig voraus, dass sich die schweizerische Kultur bis zum Ende des Jahrhunderts säkularisiert habe, dass nur noch wenige Menschen eine definierte Religiosität hätten und dass die Mitgliedschaft in den christlichen Grosskirchen unter 10 Prozent der Bevölkerung gesunken sei.44 Das ist so nicht eingetroffen. Vielmehr ist ein sehr unübersichtlicher «freier Markt der Religiositäten» entstanden, und die sogenannten Patchwork-Religionen haben sich in unterschiedlichster Zusammensetzung klar etabliert. Es wird viel über Religion und Religionen geschrieben, man ist geneigt, dem oft zitierten Bonmot von André Malraux zuzustimmen, |49| der 1961 behauptete, dass «le 21ème siècle sera religieux ou ne sera pas». In den Medien wie im Kernbereich der Familien hat sich der Grundbestand des Christentums erhalten, die Beteiligung an reformierten und katholischen Weihnachtsgottesdiensten oder Abdankungsfeiern ist bemerkenswert. Im Kanton Zürich hat jüngst der Staat den Landeskirchen konzediert, dass «zu den kirchlichen Aufgaben daher insbesondere auch die Suche nach Sinn und Werten in der Gesellschaft [gehört]. Gerade deshalb haben die Kirchen eine umfassende, kritische, wertebegründende und wertevermittelnde und damit integrative gesellschaftliche Funktion.»45 Solche Formulierungen können nicht hoch genug geschätzt – und dann als Motivation und Ermächtigung ernst genommen werden!
Die Kirchen tun also gut daran, wenn sie die gegenwärtige offene Situation als das nehmen, was sie ist: eine perfekte Chance, ihre Botschaft und sich selbst zu positionieren. Und zwar so, dass damit auch Milieus zumindest interessiert werden können, die sich direkt nicht als «religiös im engeren Sinn» bezeichnen. Es wäre fatal, wenn sie sich auf den personalen und den innerkonfessionellen Bereich zurückzögen. Notwendig ist das Aufsuchen der Öffentlichkeit, der Markt- und Medienplätze, damit sie wahrgenommen werden und sich qualifiziert am öffentlichen und damit politischen Diskurs beteiligen können. So nehmen sie gestaltend und vom Grund-Auftrag her Einfluss auf die politische Kultur.
3. Öffentliche Botschaft
Es ist durchaus bemerkenswert, dass z. B. die Zürcher Kirche in ihrer ganz neuen Kirchenordnung (Volksabstimmung 2009, in Kraft ab 2011) ihren Grundauftrag ableitet aus dem wohl berühmtesten und gleichzeitig ältesten Kirchen-Satz, formuliert im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses von Nicäa-Constantinopel (325/381): «Ich glaube … an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.» In knappst möglicher Weise werden hier die vier Grund-Dimensionen kirchlichen Seins in der Welt und kirchlichen Handelns darin zusammengefasst:
«eine», Koinonia: Das Suchen und Einrichten von Gemeinschaft unter den Menschen.
«heilige», Leitourgia: Die Vergewisserung im Glauben, der Ausgangspunkt aller Spiritualität.
«katholische», Diaconia: Die Weisung, «den anderen» nah und fern zur Seite zu stehen, liebend.
«apostolische», Martyria: Die Weitergabe der Botschaft in Zeugnis, Bildung und Kommunikation.
|50| In der folgenden Grafik werden die Bezüge der vier Dimensionen dargestellt. Die vertikale Linie gründet im Glauben an das Evangelium und bezeugt diese Botschaft in die Welt hinaus, die horizontale Linie verbindet die beiden Pole «innen» und «aussen» miteinander und macht deutlich, dass jede Verkündigung «urbi et orbi» erreichen will. Diese Grundfigur bildet den Hintergrund für jedes kirchliche Handeln.
apostolisch | |||
MARTYRIA | |||
Katholisch | eine | ||
DIACONIA | KOINONIA | ||
heilig | |||
LEITOURGIA | |||
Es wäre zudem ein Leichtes, auf den beiden Achsen die einzelnen Aktivitäten einer Gemeinde aufzutragen, um festzustellen, wie ausgewogen oder unausgewogen in Bezug auf das Bild die jeweiligen Bereiche korrelieren.
4. Vermittlung der Botschaft
Es war ein überaus mutiger Aufbruch für die eben erst konstituierten reformierten Landeskirchen, als sie in der Zeit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, insbesondere zwischen Helvetik und Neugründung der Eidgenossenschaft, der aus der ruralen Situation in die neu entstehenden Wirtschaftsorte migrierenden Bevölkerung gefolgt sind und in den neuen Siedlungen Kirchen (und später Gemeindehäuser) errichtet haben – um den «umgepflanzten Menschen» auch religiös eine neue Heimat und sicheren Boden zu schaffen. Innerhalb kurzer Zeit mussten – mit nachhaltigem Erfolg – neue Ressourcen erschlossen und neue Formen der Evangeliumsvermittlung entwickelt und umgesetzt werden. Heute daran zu erinnern, ist kein nostalgischer Akt. Vielmehr zeigt es, dass auch in früheren Zeiten kirchliches Handeln die Zeichen der Zeit lesen und entsprechend ansetzen konnte.
Aus dem unter 1–3 oben Gesagten lässt sich klar erkennen, dass die Präsenz der Kirchen in der Welt auf verschiedenen Ebenen stattfinden muss. Kurz erläutert |51| seien die vier folgenden, in sich zusammengehörenden und sich gegenseitig bedingenden und befruchtenden Ebenen:
«territoriale Ebene»: Die Menschen werden dort angesprochen, wo sie ihren Wohnsitz haben. Das dürfte weiterhin der privilegierte Ort sein, um Gemeinschaftsformen jeglicher Art zu entwickeln und zu implementieren.
«kasuale Ebene»: Die Menschen werden dort aufgesucht, wo sie freiwillig oder eingewiesen für eine bestimmte kürzere oder längere Zeit leben und leben müssen, z. B. in Spitälern, Kliniken, Heimen, Gefängnissen, Betrieben, Schulen etc. Im Zentrum stehen stützende und unterstützende Aspekte.
«occasionale Ebene»: An stark frequentierten oder ungewohnten Orten entstehen kurz- oder langzeitige «Einkehrmöglichkeiten», «Oasen der Besinnung», «Gelegenheiten zum Atemholen». Menschen werden Momente der Ruhe, des Nachdenkens, der Unterbrechung angeboten, Leitourgia-Zeiten.
«mediale Ebene»: Die evangelische Botschaft hat ihren (selbstverständlichen) Platz in öffentlichen und privaten elektronischen und Print-Medien sowie im ganzen sprunghaft raumgreifenden Feld der Social Media. In interaktiven Gefässen verbreiten sich Zeugnis, Bildung und Kommunikation der befreienden Botschaft von Jesus Christus für die Welt.
Diese vier