Im Blick auf die eigene Forschungspraxis ist zudem in Sachen Religion die besondere Kompetenz der Theologie längst nicht mehr selbstverständlich, sondern wird im Zweifelsfall sogar eher der Religionswissenschaft zugewiesen. Während sich hier die universitären Verhältnisse in Deutschland dabei noch vergleichsweise positiv darstellen,33 zeigte sich diese Form einer wissenschaftspolitischen Heuristik des Verdachts gegenüber einer gegenwartsorientierten und auf die Kirche bezogenen Theologie jüngst besonders deutlich in den prominenten staatlichen Forschungsausschreibungen der Schweiz.34 Dies gilt im Übrigen auch für die europäischen Forschungspolitiken, in denen die zivilisierende Bedeutung des Religionsthemas und damit auch eine konstruktive Rolle theologischer Forschung angesichts stark laizistischer Grundhaltungen der maßgeblichen politischen Kultur erst noch deutlich zu machen ist.
Aber auch im Bereich des kirchlichen und kirchenleitenden Handelns stellen kirchentheoretische Reflexionen nicht automatisch schon bedeutende Orientierungsgrößen dar. Nicht selten wird gerade der theologischen Reflexion keine Relevanz für die »eigentlichen« und konkret zu lösenden kirchlichen Alltagsprobleme zugesprochen. Man muss deshalb auch von einem innerkirchlichen Plausibilitätsverlust theologischer Deutungsarbeit ausgehen. Dies mag zugegebenermaßen nicht unbedingt an der Attraktivität ihrer Forschungen |23| liegen, sondern auch am nicht ganz von der Hand zu weisenden geringen Interesse des kirchlichen Personals an solchen Orientierungen35.
So steht die Theologie vor der wesentlichen Herausforderung einer auch öffentlich nachvollziehbaren dezidiert theologisch grundierten Kommunikation der gesellschaftlichen Relevanz ihrer eigenen Forschungsziele, Analysen und Erkenntnisse. Und dies sollte gerade nicht als Anbiederung an bestimmte äußere Anliegen verstanden werden, sondern als Ermutigung, der eigentlichen Kernaufgabe des Wissenschaftstransfers in Gesellschaft und Kirche hinein auch durch die entsprechenden Forschungsschwerpunkte möglichst deutlich zu entsprechen.
Über die genannten Herausforderungen hinaus muss eine kirchentheoretische Konzeption öffentlicher Kirche aber auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse intensiv mit berücksichtigen. Will eine Kirchentheorie tatsächlich zeitgemäß sein, muss sie immer auch mit der Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen verknüpft sein.
4. Herausforderungen der Zivilgesellschaft
Auch wenn für die allermeisten Menschen in den deutschsprachigen Ländern die politischen, sozialen |24| und ökonomischen Verhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts vergleichsweise stabil und sicher erscheinen, ist doch von sowohl sichtbaren wie unbemerkten hochprekären Lebenslagen innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auszugehen.
Dies zeigt sich zum einen in faktischen Exklusionen von Menschen und ganzen sozialen Gruppen aus der Gesellschaft, die sich am deutlichsten als Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung, an Teilhabegerechtigkeit etwa in Fragen der schulischen und kulturellen Bildung, aber auch der gesellschaftlichen Integration und politischen Beteiligungsmöglichkeiten manifestieren. Das umfasst andererseits auch die ökonomischen und ökologischen Kosten, die vom mitteleuropäischen Lebensstil schon jetzt von Menschen in ganz anderen Regionen der Welt faktisch zu bezahlen sind. Insgesamt ist die gesellschaftliche und ökonomische Lage bei weitem nicht so stabil und verlässlich, wie sie in der Öffentlichkeit erscheint oder dieser weisgemacht wird.
Auszugehen ist von erheblichen subjektiv wie kollektiv wirksamen Drucksituationen, Angst- und Versagensgefühlen wie auch faktischen Bedrohungslagen, in jedem Fall von erheblichen Leistungs-, wenn nicht sogar Vollkommenheitsanforderungen an die je individuelle Person und ihre Kompetenzen der selbstverantwortlichen Lebensgestaltung.
Von einem Gemeinwohl- oder Solidarprinzip kann bestenfalls noch in den kleinen überschaubaren Einheiten die Rede sein – dies mag sich graduell im bundesdeutschen und schweizerischen System unterschiedlich darstellen. Letztlich zeigt sich doch eine Art egozentrischer und familialer Konzentration auf den Nahbereich, im Sinn einer Nahraumfixierung, die zwar anthropologisch verständlich sein mag, gleichwohl aber doch problematische Konsequenzen gesellschaftlicher Ausgrenzung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit36 mit sich bringt. Überhaupt gilt, dass zu einem zukunftsfähigen Umgang der Politik mit gesellschaftlichen Großrisiken jedenfalls die Aufgabe gehört, »über Risiken und Chancen öffentliche Debatten zu führen und dort, wo sie fehlen, in Gang zu bringen«37.
Was durch die Dynamik einer Occupy-Bewegung38, die bereits erwähnte Rede von einer Post-Demokratie39 oder auch durch die digitalen Kommunikationsformen ausgelöst werden wird, lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Dass dabei allerdings neuerliche Phänomene wie die der Piratenpartei erst noch einen längeren Weg hin zu substantiellen Formen öffentlicher Gestaltungsmitverantwortung zu gehen haben, liegt auf der Hand.
Grundsätzlich ist aber unübersehbar, dass den zivilgesellschaftlichen Akteuren ein hohes Maß an Partizipation in politischen Willensbildungsprozessen zugestanden und auch zugemutet wird, das sich mit einem sehr viel stärkeren Appell an die Eigeninitiative und das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für sich selbst sowie für das Gemeinwohl verbindet. Oder um es positiv zu formulieren: Das personale Leitbild einer partizipativen Demokratie »besteht in der Steigerung des mündigen zum engagierten Bürger«40. Zivilgesellschaftliche Organisationsformen dürfen per se nicht vertikal und hierarchisch, sondern müssen horizontal und gleichberechtigt ausgestaltet |25| sein, sich ein- und nicht ausschließend verhalten, im Inneren den Wert des Gesetzgebungs- und Gewaltmonopols achten und ansonsten die Vielstimmigkeit in ihren eigenen Reihen leben41. In diesen selbsttätig sich organisierenden Formen, die gleichwohl im Einzelfall staatliche Unterstützung erfahren können, treten diese neben dem Staat und dem Markt als dritte gesellschaftliche, eben intermediäre, Komponente auf. In normativer Hinsicht meint Zivilgesellschaft die »freie, assoziative, öffentliche und politische Selbstorganisation und Selbstbestimmung der Mitglieder in Angelegenheiten, die alle betreffen«, wobei Zivilgesellschaft immer ein Element von Demokratie und einen Modus von Vergesellschaftung und nicht die Herrschaftsform der Demokratie als solche bezeichnet.42
Natürlich heißt dies im Umkehrschluss nicht, dass schon jede zivilgesellschaftliche Gruppierung per se demokratischen Charakter trägt, wie die jüngeren rechtsextremistischen Bewegungen sowohl in Deutschland wie in der Schweiz so erschütternd wie alarmierend zeigen. Hier gilt im Übrigen grundsätzlich und damit auch für die kirchliche Artikulationsstrategie: »Letztlich ist dem Phänomen des populistischen ›Aufmerksamkeitspolitikers‹ nur beizukommen, indem man diesem die Diskurshegemonie abspenstig macht«43.
Vermutlich werden aber neue politische und zivilgesellschaftliche Artikulationsformen auch durch die Möglichkeiten der beschleunigten medialen Verbreitung weiter zunehmen. Wobei hier gleich angemerkt sei, dass Überlegungen, alle wesentlichen Entscheidungskompetenzen auf die sogenannten kleinen Gemeinschaften zu verlegen, so illusorisch wie auch demokratietheoretisch keineswegs unproblematisch sein dürften.
Die genannten und hier nur umrissenen Herausforderungen machen ein deutlich anderes, öffentlich artikuliertes und damit sehr viel besser erkennbares kirchliches Selbstverständnis unbedingt notwendig, noch zumal gilt, dass es im Zuge der Renaissance der Religionen »kaum einen politischen Konflikt, kaum eine wirtschaftliche Marktsituation oder kulturelle Konstellation [gibt], die nicht durch religiöse Faktoren mitgeprägt wäre«44. Dabei wird der These zugestimmt, wonach jede gehaltvolle zivilgesellschaftliche Verständigungskultur davon lebt, »dass ihr von engagierten, in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftretenden Weltanschauungs- und Überzeugungsgemeinschaften |26| bestimmte Wert- und Normvorstellungen mit Nachdruck vorgelegt werden«45, die sie dann ihrerseits in aller Offenheit kritisch auf ihre mögliche Bedeutsamkeit hin prüfen sollte. Ganz zu Recht kann damit sowohl dem Begriff Öffentlichkeit wie dem Begriff Zivilgesellschaft die »Rolle eines normativen Garanten demokratischer Kontinuität als auch die Rolle eines falsche Gewissheiten destituierenden [sic!] Garanten produktiver Ungewissheit«46 beigemessen werden.
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