Schrebergarten Blues. Jost Baum. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jost Baum
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944369419
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hinaufschleppte. Nur mit allergrößter Mühe gelang es ihm, sich auf die Stufen zu konzentrieren. Für einen kurzen Moment schwanden ihm die Sinne, ihm war, als habe jemand in einer rasenden U-Bahn das Licht ausgeknipst. Sein Magen hatte sich zwar etwas beruhigt, dafür fuhren in seinem Kopf die Gedanken Achterbahn. Er sah und hörte eine Horde wild gewordener Gartenzwerge, die miteinander kopulierten, kicherten, laut gröhlten und sich gegenseitig Zoten erzählten. Jablonski nahm die Umrisse der Möbel und die Form des Zimmers, in das ihn Carla gebracht hatte, nur schemenhaft war. Das Mädchen bugsierte ihn zu einer Couch, nachdem sie ihm geholfen hatte, seinen Trenchcoat auszuziehen.

      »Ein Bier«, rülpste Eddie aus der Horizontalen, während er die Schuhe von seinen Füßen streifte und sich der Länge nach auf der Chaiselongue ausstreckte.

      »Jablonski, bitte, reiß dich zusammen, wir wollten doch noch über den Artikel …«

      »Später …«, murmelte Eddie, kniff die Augen zusammen und fixierte einen imaginären Punkt an der Zimmerdecke.

      »Das ist ja wohl das Letzte!« wütete Carla, eilte in die Küche und kam bald darauf mit einem Pils zurück, das sie ihm angewidert entgegenstreckte. Sie hockte sich auf einen Sessel und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Jablonski trank in langen gierigen Schlucken, bölkte laut und deutlich, bevor er sich auf die Seite rollte und die Augen schloß.

      »Mistkerl!« zischte Carla zornig, ballte die Fäuste, sprang auf und stampfte mit den Füßen auf den Boden und verließ wütend das Zimmer.

       Sieh, die Sonne sinkt!

       Eh sie sinkt, eh mich Greisen

      ergreift im Moore Nebelduft,

       entzahnte Kiefer schnattern

      und das schlotternde Gebein,

       Trunknen vom letzten Strahl

       reiß mich, ein Feuermeer

      mir im schäumenden Aug,

       mich geblendeten Taumelnden

      in der Hölle nächtliches Tor.

      Goethe: An Schwager Kronos

       Viertes Kapitel

      Es war fünf vor halb acht, als Carla Jablonski aus dem tiefen, traumlosen Schlaf des Betrunkenen weckte. Nachdem sie einen Stapel Bücher weggeräumt hatte, stellte sie ein Tablett mit einer Kanne dampfenden Kaffees und einer kleinen Schale mit Keksen auf das Holztischchen, das vor der Couch stand, auf der Jablonski genächtigt hatte. Eddie brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Sein Schädel war schwer wie Blei. Er fühlte sich so zerschlagen, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Als er Carlas angestrengt freundlichen Blick wahrnahm, glaubte er zu spüren, daß sie einen Schwall von Vorwürfen für ihn bereithielt, dem er in seinem Zustand nicht gewachsen sein würde. Sie war so nervös, daß sie zitterte und eine riesige Kaffeepfütze auf der Tischdecke hinterließ, als sie versuchte, ihm eine Tasse einzugießen. Hastig stand sie auf, fluchte leise und kam mit einem Wischlappen aus der Küche zurückgerannt, den sie mit fahrigen Bewegungen in das schwarze Naß tunkte.

      Jablonski war sich jetzt absolut sicher, alles falsch gemacht zu haben. Seine pure Anwesenheit schien für das Mädchen bereits eine Provokation zu sein. Eddie verspürte allerdings nicht die geringste Lust, seinen Absturz vor ihr zu rechtfertigen. Dennoch fragte er sich immer häufiger, warum er es nicht schaffte, morgens in seinem eigenen Bett wach zu werden, nüchtern wie ein Konfirmand zu Ostern und mit einem ebenso reinen Gewissen. Ich sollte versuchen, zu Uschi zurückzukehren, dachte Jablonski, holte tief Luft, ließ sich in die Polster fallen und versuchte, seine trüben Gedanken möglichst schnell zu verdrängen.

      »Vielleicht sollten wir unser Gespräch dort fortsetzen, wo wir es gestern unterbrochen haben?« begann er ruhig, träufelte ein wenig Milch in seinen Kaffee und steckte sich eine Zigarette an. Sie schmeckte wie getrockneter Rinderdung. Sofort drückte er den Glimmstengel in dem blankpolierten Glasaschenbecher aus, der wie zur Dekoration auf dem Couchtisch stand.

      »Dazu habe ich keine Zeit. In zwei Stunden beginnt meine Geschichtsklausur, und ich muß mich darauf noch ein wenig vorbereiten«, antwortete sie, nahm einen Schluck von dem kochendheißen Kaffee und verbrannte sich daran die Lippen.

      »Scheiße …«, schrie sie laut und bugsierte die Tasse so vorsichtig wie möglich auf den Tisch zurück. Schlagartig fühlte sich Eddie erleichtert. Offenbar gab es außer ihm noch andere Gründe, die das Mädchen in Rage brachten.

      »Ich habe allerdings ein paar Argumentationshilfen für dich, die einigen Leuten beweisen werden, was für ein Schwachsinn es ist, diese Golfanlage in die Landschaft zu klotzen«, begann Carla und wies auf den Bücherstapel, dessen oberster Band den bemerkenswerten Titel Oecological Research about Golfplaces trug.

      »Du verlangst doch nicht im Ernst von mir, daß ich diesen Wälzer lese?« entsetzte sich Eddie, während er den schwergewichtigen Band mit einer Hand wog. Sein Englisch reichte gerade aus, in einer Hafenkneipe ein Bier zu bestellen. Darunter entdeckte er ein etwas dünneres Büchlein, das die 100 Regeln des Golfsports enthalten sollte. Er legte den englischen Schinken beiseite und begann, in dem schmalen Band zu blättern, während Carla aufstand und das Kaffeegeschirr abräumte.

      »Du kannst die Bücher mitnehmen, wenn du gleich gehst!« rief sie ihm aus der Küche zu.

      »Das war deutlich«, grinste Eddie, erhob sich mühsam wie ein Tattergreis und nahm den Bücherstapel unter den Arm.

      »Übrigens, Opa Rudi hat gestern abend mit dem Hungerstreik begonnen … Ach ja, ehe ich es vergesse, du mußt mir das Zeug heute abend wiederbringen, die Leihfrist ist abgelaufen.«

      »Mal sehen,« brummelte Eddie. Er wußte beim besten Willen nicht, ob er sich bei ihr noch einmal blicken lassen würde. Carla nickte nur, als er sich verabschiedete.

      Eddie fröstelte, als er auf die Straße trat. Der Himmel war milchig grau, und die Sonne, die sich hinter dem Dunstschleier versteckte, hatte noch nicht genug Kraft, um ihn zu wärmen. Die Frau ist eiskalt, wie eine Tiefkühltruhe. Schade, daß sie mich so schnell rausgeschmissen hat. Ich hätte wirklich gerne noch ein wenig in ihrer Wäsche gewühlt und die Marke ihrer Anti-Baby-Pille erfahren, dachte Eddie grimmig, als er die Autotür aufschloß. Er kam sich jetzt plötzlich vor wie einer dieser Voyeure, die auf dem Bahnhofsklo herumstrichen und Löcher in die dünnen Wände der Damentoiletten bohrten. Manchmal hätte er sogar das getan, um wenigstens für Sekunden die Illusion von Nähe zu erhaschen. Um sich abzulenken, schaltete er das Autoradio ein. Aus dem Lautsprecher quoll Countrymusik. Es war genau das Richtige, um sich zu versichern, daß die Dinge noch an ihrem Platz waren und die Welt für ihn doch noch ganz passabel eingerichtet sei. Wenig später saß er in seinem Büro und blätterte in einem der Bücher, die Carla ihm mitgegeben hatte. Er tat dies eher aus einem schlechten Gewissen dem Mädchen gegenüber, als aus wirklichem Interesse. Allerdings war das Handbuch für den Golflaien so flott geschrieben, daß er sich schon nach paar Seiten festbiß und in einigen Kapiteln aufmerksamer schmökerte. Dann ließ er sich mit Dr. Müller verbinden und vereinbarte einen Termin für den frühen Nachmittag. Zuvor wollte er sich jedoch mit Rudi treffen, damit er mit ihm alle Argumente, die er gesammelt hatte, noch einmal durchsprechen konnte. Die Fotos, die Rehnagel vor einigen Tagen von der Kleingartenanlage geschossen hatte, waren alles andere als geeignet, Sympathien für den Erhalt der Parzellen zu wecken. Der Fotograf schien das ebenfalls bemerkt zu haben und war deshalb sofort bereit, seine Archivarbeit zu unterbrechen, um mit Jablonski an den Stausee zu fahren.

      Unterwegs erzählte Rehnagel, daß er sich mit dem Sportredakteur nun endgültig verkracht habe, da dieser seine Fotos als zu gestellt und nicht aus dem Leben gegriffen betrachtete. Im Stillen mußte Jablonski dem Sportredakteur leider recht geben, obwohl er den schleimigen und unterwürfigen Hüser nicht ausstehen konnte.

      Der Parkplatz an der Seeuferpromenade glich einem Jahrmarkt. Ein paar blasse, harmlose Typen in Jeans, Windjacken und Ökotretern hatten einen Tapeziertisch mit Greenpeaceplakaten behängt, auf denen tote Robbenbabies,