Zuerst riss er alle Fenster auf, um die letzte warme Luft dieses Bilderbuchsommers ins Haus zu lassen. Seine Gäste hatten in diesem Jahr allesamt Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte kaum geregnet, wochenlang hatte die Sonne für märchenhafte Temperaturen um 25°C gesorgt.
Da hier in Schweden dazu eigentlich immer ein angenehmer Wind wehte, wurde es nie so unerträglich schwül, dass man nur noch matt in der Ecke sitzen konnte. Vielleicht würde ein Teil seiner Familien nach dieser traumhaften Urlaubserfahrung im nächsten Sommer wiederkommen. Wäre nur gut für die gesamte Tourismusindustrie, wenn möglichst viele vom schönen Wetter in Skandinavien erführen, und sich das alte Vorurteil vom kalten Norden endlich ausmerzen ließe!
Immer noch maulig öffnete er die Türen der eingebauten Wandschränke in der Küche und begann das Geschirr zu überprüfen. Jemand hatte das bunt zusammengewürfelte Gläsersortiment um eine weitere Modellreihe erweitert. Na schön, dachte Gunnar, wenigstens hatten sie für Ersatz gesorgt. Bei jeder Endkontrolle gab es Verluste zu beklagen, aber das war bei Familien mit Kindern auch fast zu erwarten.
Das mochte der Grund dafür sein, dachte Gunnar, dass einige seiner Bekannten lieber an ältere Ehepaare oder erwachsene Allergiker vermieteten, ohne Kinder und ohne Haustiere.
Neben den unterschiedlichen Gläsern fanden sich auch Teller und Schüsseln mit den verschiedensten Dekoren. Er zählte oberflächlich die Teller, Tassen und Gläser, sowie Gabeln, Messer, Teelöffel und Suppenlöffel. Schließlich wurde sein Haus für sechs Personen vermietet. Da musste natürlich auch für jeden ausreichend Geschirr und Besteck vorhanden sein!
Dann holte er den Müllsack und die Schwämme von draußen und klaubte angewidert die vielen Nahrungsmittelreste aus den Vorratsfächern. Angefangene Mehl- und Zuckertüten, klebrige Keksreste, feuchte, pampige Cornflakes, diverse Fertiggerichte in Dosen und Tüten mit italienischer, deutscher und dänischer Aufschrift.
»Dass die immer irgend etwas für die Nachmieter zurücklassen müssen!«, schimpfte er. »Das Zeug wird von den Neuen sowieso nie angerührt, und schließlich bleibt die Entsorgung immer an mir hängen!« In anderen Familien machten so was in der Regel die Ehefrauen, aber seine Inga hatte sich von Anfang an geweigert, ihm bei der Betreuung des Sommerhäuschens zu helfen. Es sei schließlich seine Idee gewesen, das kleine Haus seiner Eltern nach deren Tod auszubauen und an Fremde zu vermieten. Da solle er auch die Konsequenzen allein ›genießen‹ dürfen! Gunnar legte die Stirn in Falten, wenn er daran dachte, wie seine Freunde ihn wegen Ingas Putzweigerung regelmäßig aufzogen. Für die anderen sah es immer so aus, als könne Gunnar seiner Rolle als Familienoberhaupt nicht gerecht werden, und manchmal musste er sich tatsächlich eingestehen, dass er bei Inga ganz schön unter dem Pantoffel stand. Aber diese Sache mit dem Ferienhaus war ein echter Zankapfel zwischen ihnen geworden und sorgte in regelmäßigen Abständen für Missstimmung, nicht nur der Hänseleien wegen.
›Fremde‹ – Inga mochte Menschen aus anderen Ländern einfach nicht. Zunächst hatte er ja noch geglaubt, das werde sich mit der Zeit legen. Doch das Älterwerden hatte ihre unbestimmten Befürchtungen und Vorurteile zu fest gefügten Überzeugungen verbacken. Gegen die zusätzlichen Einnahmen hatte sie natürlich nichts. Das Geld der Fremden war ihr immer willkommen gewesen! Keine Rede davon, dass Gunnar es etwa für sich behalten und nach seinem eigenen Gutdünken damit verfahren durfte! Zweierlei Maß, wohin man schaut! Gunnar knurrte ärgerlich.
Er war in der Küche fertig, ging ins Bad und sammelte dort halb leere Shampooflaschen ein, vergessene Zahnbürsten und eine kleine gelbe Quietschbadeente. Er drückte sie ein paar Mal und grinste.
»So eine durfte auch mit mir in meiner Badewanne schwimmen, als ich noch ein Kind war!«, murmelte er.
Er versuchte sich zu erinnern – meine Güte!
»Das muss jetzt auch schon weit über 60 Jahre her sein!« Gunnar war betroffen. »Manche Dinge kommen eben nie aus der Mode, tauchen in jeder Generation wieder auf!« Er seufzte noch einmal, diesmal etwas wehmütig.
Nicht, dass er wirklich bedauerte, nicht mehr ganz jung zu sein. Nein! Aber das Älterwerden hatte so seine unübersehbaren Schattenseiten. Er wurde haarloser und litt unter einer Vielzahl von Beschwerden und Wehwehchen. Seine zunehmende Arthrose ließ die Gelenke unbeweglich werden, machte jeden Schritt zur Qual. Die Augen wurden schlechter, genauso wie das Gehör. Für viele Arbeiten, die er früher im Vorbeigehen erledigte, brauchte er heute die Hilfe seines Sohnes. Aber der hatte leider nicht immer Zeit und so musste Gunnar seine Wünsche frühzeitig anmelden, damit sein Sohn ihn in seinem Terminkalender vermerken konnte.
Darüber ärgerte er sich schon manchmal.
Andererseits war er sehr stolz darauf, einen gefragten Wissenschaftler zum Sohn zu haben: Prof. Dr. Klaus Hilmarström. Das klang gut, fand Gunnar, obwohl es natürlich noch besser gewesen wäre, wenn Klaus Medizin studiert hätte. Aber Dr. der Physik war auch ganz in Ordnung.
Als er durch den Wohnraum kam, schaltete er das Radio so laut ein, dass er die Musik in allen Zimmern hören konnte und es nicht mehr so unheimlich still im Haus war. Keine direkten Nachbarn zu haben, hatte eben auch seine Vorteile. Immerhin lag das nächste Haus fast einen Kilometer weit entfernt.
Diese Einsamkeit war es, die seine Feriengäste besonders schätzten. Schwedenurlaub war Natur pur. Wenn man es nicht direkt darauf anlegte, konnte man hier wochenlang wohnen, ohne überhaupt jemanden zu treffen.
Ein Hausfrauensender dudelte ein Wunschkonzert mit ›Hits from yesterday‹ und dazwischengeschalteten Kochrezepten.
»Genau das Richtige für mich. Die Texte kenn’ ich noch von früher«, murmelte Gunnar und machte sich etwas beschwingter wieder an die Arbeit.
In den Schlafräumen inspizierte er das Bettzeug, legte es dann ordentlich zusammen und verstaute die Einziehdecken und Kissen in den geräumigen Einbauschränken. Zufrieden sah er sich um. Die letzte Familie hatte die vertraglich vereinbarte Endreinigung offenbar sehr sorgfältig durchgeführt. Nichts deutete mehr auf die ehemaligen Bewohner hin. Selbst unter den Betten war alles sauber! Er grunzte anerkennend.
Mit einem reinigungsmittelgetränkten Tuch wischte er alle Türen und Oberflächen ab, rieb die Klinken, bis sie glänzten, trug japsend den Fernseher in sein Auto – man konnte ja nie wissen, und sicher ist sicher – und wischte dann die Böden gründlich feucht auf.
Dabei hörte er zu, wie eine junge Dame die Zubereitung ihres Lieblingsgerichtes erklärte: Janssons Frestelse*. Gunnar lief das Wasser im Mund zusammen. Inga kochte lieber leichte Kost, angeblich, weil Gunnar auf sein Cholesterin und seinen Blutdruck achten musste. Aber, war er fest überzeugt, in Wahrheit versuchte sie nur, Arbeit zu sparen. Ein grüner Salat und ein bisschen Pute dazu – nicht zu vergleichen mit Janssons Verführung! Nein, wirklich nicht!
Das Bad und die Küche mussten immer besonders intensiv gereinigt werden, damit es im Frühjahr, wenn er alles für die neuen Feriengäste vorbereitete, nicht aus den Abflüssen und der Toilette stank. Gunnar schraubte die Siebe auf, entfernte Haare und Seifenreste und goss zum Schluss einen ordentlichen Schuss Chlorreiniger in Waschbecken, Toilette und Spüle. Befriedigt hörte er die Flüssigkeit in der Tiefe der Rohre gurgeln und zischen.
Fast geschafft, dachte er, als er die Teppiche abgesaugt und die benutzten Tischdecken auf dem Küchentisch gestapelt hatte. Die Schmutzwäsche würde er beim Rausgehen zum Waschen mitnehmen. Auf der einen war ein unschöner roter Fleck, bestimmt Kirschsaft. Inga würde wahrscheinlich wieder ein Riesengezeter veranstalten. Aber wenigstens war sie bereit, die Wäsche aus dem Häuschen zu waschen, nachdem Gunnar einmal alle Bettbezüge mit einer übersehenen roten Socke rosa verfärbt hatte und sie mehrere neue Garnituren kaufen mussten.
Bei dem Gedanken an die zu erwartende Tirade zog er automatisch abwehrend die Schultern hoch.
Tja, erinnerte sich Gunnar versonnen lächelnd, natürlich war auch seine Inga einmal eine schöne, liebevolle Frau gewesen. Als sie vor gut vierzig Jahren geheiratet hatten, war sie fröhlich und lebenslustig gewesen. Doch mit den Jahren war ihr unbeschwertes