»Gut. Ich sage nur den anderen Bescheid.« Knyst sprang auf.
»Fangen wir also mit der Rechtsmedizin an. Der Bericht aus der Pathologie ist vielleicht auch bis heute Nachmittag fertig – dann haben wir wenigstens einige Informationen, mit denen wir arbeiten können.« Sven Lundquist streckte sich. Knyst beobachtete ihn, als er langsam an das große Fenster ihres Büros trat und nachdenklich, fast melancholisch auf die Straße hinaus blickte.
Sie waren erst vor einigen Wochen in diese renovierten Büros umgezogen und genossen den Blick auf andere Häuser und Menschen, weil es ihnen das Gefühl gab, von Leben umgeben zu sein; selbst ein Bestandteil dieses Lebens zu sein.
In den Räumen, in die sie während der Renovierungsaktion wegen eines Wasserschadens ausweichen mussten, hatte es nur winzig kleine Fenster gegeben, durch die man auf einen finsteren Innenhof sehen konnte, dessen andere Begrenzungsmauern fensterlos waren. Schon im Sommer lagen die Räume sicher in permanentem Dämmerlicht. Besonders schlimm wurde es im Winter, als sie die Zimmer benutzten. Ständig waren sie von einer Art Polarnacht umgeben. Ohne künstliches Licht konnte man dort an keinem Tag des Jahres arbeiten.
In diese frisch gestrichenen Büros flutete das Tageslicht, und sie waren in den ersten Tagen so geblendet wie Ratten, die aus finsteren Kellerlöchern ans Tageslicht kommen. Endlich hatten sie wieder genug Platz, um ihre Schreibtische aneinander zu stellen und sich beim Arbeiten ansehen zu können. Auf jedem ihrer Tische stand ein moderner Computer, der ihnen die Möglichkeit bot, durch Vernetzung Zugang zu anderen Dateien zu bekommen und sich gegenseitig Informationen auf den Schirm zu schicken. Britta hatte zusammen mit Bernt ein eigenes Büro, das dem ihren direkt gegenüberlag.
Doch Dank der modernen Technik war es jetzt gar nicht mehr unbedingt notwendig, wegen jeder Kleinigkeit aufzustehen und hinüber zu gehen, Informationsübermittlung erledigte jetzt der Computer für sie. Lundquist hatte seinen Mitarbeitern scherzhaft zu bedenken gegeben, dass diese neue Art der Kommunikation auch unübersehbar große Risiken berge. Es sei unbedingt notwendig, sich regelmäßig zu bewegen da sonst die Nutzung des Computers nur die beginnende Fettleibigkeit bei einigen Mitarbeitern unterstützen würde und bei anderen zu speziellen Formen der ›Vereinsamung am Arbeitsplatz‹ führen könne.
Sven Lundquist sah müde aus, dachte Knyst. Dunkle Schatten lagen unter seinen stahlblauen Augen. Sein markantes Gesicht mit der prägnanten Nase war blass und seine sonnengebleichten, sonst so ordentlich frisierten Haare waren heute fast struppig. Vielleicht hatte Lisa ihn in der letzten Nacht nicht richtig schlafen lassen. Seine kleine Tochter war zwar schon vier Jahre alt, flüchtete sich aber bei schlechten Träumen noch immer gerne in Papas sicheres Bett.
»Lisa hat wohl wieder mal eine schlechte Nacht gehabt und dich als Tröster gebraucht. Mann – so ein Kind kann einen glatt zehn Jahre älter aussehen lassen!«
»Na ja, in dem Alter träumen sie allerhand beängstigendes Zeug – da braucht sie ihren Papa noch. In ein paar Jahren komme ich für diesen Job ohnehin nicht mehr infrage, da muss ich es jetzt genießen. Warum fragst du?«, wollte Lundquist wissen und fuhr sich wieder mit der Hand über die Augen.
Das war typisch Lars, registrierte er dabei amüsiert. Er verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit im Fitness-Studio und achtete eitel auf sein Äußeres. Bei einer Größe von fast zwei Metern war er eine auffallende Erscheinung und sein gestählter Körper wirkte mit dem lausbubenhaften Gesicht und den kinnlangen dunklen Haaren auf Frauen beinahe unwiderstehlich.
Knysts Freundin wünschte sich Kinder, das hatte Lars kürzlich erzählt – da war es nur natürlich, dass der junge Mann die möglichen negativen Auswirkungen einer Vaterschaft auf seinen trainierten Körper und seine energiegeladene Erscheinung bedachte.
»Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus. Vielleicht hast du dich ja auch bei Britta angesteckt.«
Britta Liliehöök, einzige weibliche Mitarbeiterin der Abteilung und erklärte, latent militante, Feministin, litt schon seit einigen Tagen unter einer Erkältung, die ihre Nase gerötet, ihren Hals rau gemacht und ihre Stimme verflüstert hatte. Tapfer kam sie dennoch jeden Tag zum Dienst, obwohl einige ihrer Kollegen den Verdacht geäußert hatten, sie käme nur, um die männlichen Mitarbeiter mit ihrem Virus wirksam auszurotten, damit deutlich mehr Stellen mit Frauen besetzt werden konnten.
»Ach was – gegen den Erreger bin ich immun. Das sind nur Kopfschmerzen und die unangenehme Startphase bei dieser Ermittlung«, beruhigte Lundquist seinen Kollegen und fügte hinzu: »Ich habe heute Abend noch einen privaten Termin. Wir sollten also zügig losfahren, damit wir so rechtzeitig wieder hier sind, dass ich den Autopsiebericht noch vorher lesen kann. Besprechung im Team dann gegen 16 Uhr.«
Er drehte sich langsam um, griff in seine Hosentasche und grinste Lars Knyst an, was ihn noch jünger aussehen ließ. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog er die Hand aus der Tasche und warf ihm den Autoschlüssel zu. Voller Eifer hechtete Knyst, der ein begeisterter Autofahrer war, nach dem Bund und fing es geschickt auf.
»Du fährst!«, sagte Lundquist. Sie sahen einander an und lachten.
»Privater Termin heute Abend, hä? Ein Rendezvous etwa?«, grinste Knyst, als sie kurze Zeit später zur Rechtsmedizin unterwegs waren und lauschte so zufrieden dem gleichförmigen, leisen Motorengeräusch, wie es nur einem echten Autofan möglich war.
»Nein«, antwortete Lundquist, »es sei denn, mein Hausarzt interpretiert neuerdings Besuche in seiner Praxis auf diese Weise.«
»Aha. Also doch Brittas Virus! Ich sag’s ja: Die wird uns alle ausrotten damit!«, stellte Knyst fest und knurrte verärgert.
»Nur der normale Check. Außerdem freut sich Gitte doch bestimmt, wenn du heute mal eher nach Hause kommst.«
»Ja, das wär wohl nicht ganz verkehrt«, antwortete Lars nachdenklich und begann mit der Planung eines romantischen Abends mit Rosen und gutem Essen in ihrer Lieblingspizzeria, und danach …
Gitte hatte sich in letzter Zeit oft über seine unkalkulierbaren Arbeitszeiten beschwert, und jetzt war die Gelegenheit ihr zu beweisen, dass Unkalkulierbarkeit auch ihre Sonnenseiten haben konnte. Er durfte nur nicht vergessen einen Tisch in ihrem Ristorante zu bestellen; in letzter Zeit war das Lokal immer gut besucht. Leise pfiff er vor sich hin.
Dr. Mohl, ein untersetzter, älterer Herr erwartete sie schon.
»Guten Morgen! Da habt ihr uns eine echte Knobelaufgabe geschickt. Nicht das Übliche jedenfalls, nein, wirklich nicht.«
Lundquist begrüßte den Rechtsmediziner herzlich. Sie arbeiteten schon zusammen, seit er seinen ersten Fall lösen musste.
Auf Dr. Mohls Urteil war Verlass.
»Was wir mit Sicherheit feststellen konnten ist, dass es sich um eine Frau handelt. Alles andere wird schwierig. Sehr schwierig«, erklärte der forensische Pathologe, während er mit kleinen, trippelnden Schritten vor den beiden jungen Männern herlief. Der Gang schien sich endlos hinzuziehen, rechts und links gingen Stahltüren ab, die in Sektions- oder Kühlräume führten. Lundquist zog fröstelnd die Schultern hoch. Er kam nicht gerne an diesen Ort. Der Tod bekam unter den Händen der Gerichtsmediziner eine neue Dimension. Qualen, von denen man zuvor nichts geahnt hatte, erhielten Konturen und teilten sich den erfahrenen Obduzenten mit, das Opfer erhielt eine Vergangenheit, gab Auskunft über seine Lebensumstände, über frühere oder akut erlittene Misshandlungen und die Todesumstände.
»Wir untersuchen ihren Mageninhalt – oder das, von dem wir glauben, dass es der Mageninhalt ist. Vielleicht finden wir Barbiturate darin.«
Dr. Mohl stieß die Tür zu seiner Linken auf.
Lundquist hielt den Atem an.
Das diffuse Licht auf Hilmarströms Dachboden hatte den Zustand des Körpers nur erahnen lassen. Doch hier, im Licht der OP-Lampe, waren die Auswirkungen der Verwesung nicht zu übersehen. Selbst Knyst, der nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war, gab einen seltsamen, gurgelnden Laut von sich.
Sie hatten