Der den Fall untersuchende Volkskundler stolperte vor allem über den Zusatz »der aus Germania«. Den verräterischen Hinweis, dass das Buch ganz einfach erfunden ist, liefert jedoch May in seiner Autobiografie selbst.
»Er bringt nämlich in seiner Kindheitsgeschichte ein Märchen mit der Behauptung, dass dieses Märchen von seiner Großmutter bei ihren Erzählungen aus dem Hakawati stets bevorzugt worden sei. Dieses so genannte Märchen, betitelt Das Märchen von Sitara ist ein Erzählgebilde, das in keiner Weise etwas mit dem Begriff ›Märchen‹ zu tun hat. Es entspricht weiterhin weder dem kindlichen Fassungsvermögen noch dem Bildungshorizont der Erzählerin, wie es Mays Großmutter gewesen sein muss. [...] Dass dieses so genannte Märchen in Beziehung zu Mays Schaffen überhaupt steht und nicht in der Kindheit gehörte Erzählung ist, beweist auch die Einfügung der dichterischen Beschreibung der Geisterschmiede aus [Mays Drama] Bibel und Babel in dieses ›Märchen‹. Und wie May, der Proletariersohn, sein Leben lang nach dem Ideal des Edelmenschen strebte, wie er in allen seinen Werken dieses Ideal in oft sehr krasser Schwarzweiß-Manier zeichnete, sei es als Kara Ben Nemsi, als Winnetou oder Old Shatterhand, so hat er auch in diesem ›Märchen‹ lediglich seine stark dualistische Weltanschauung symbolisiert. Als nichts weiter als das ist Das Märchen von Sitara zu werten.«12
Inzwischen ist die Karl-May-Forschung noch ein Stückchen weiter. Wir wissen von Samia Al Azharia, der Herausgeber in eines Bandes Arabische Märchen, dass »Hakawati« in Syrien die Bezeichnung für einen nicht beruflichen Märchenerzähler ist. Nimmt man hinzu, dass Karl May 1899 auf seiner großen Orientreise auch Syrien berührt hat, so wäre dies vielleicht eine Spur, wie er auf dieses Wort als Titel für besagtes Märchenbuch verfallen ist.
Auf die nächstliegende Erklärung scheint die Forschung nicht verfallen zu sein. Der Name des Verfassers des Märchenbuches Christianus Kretzschmann ist nahezu identisch mit dem der Großmutter Johanne Christiane Kretschman.
Man sieht an diesem Beispiel, wie schwierig es sein kann, die May'schen Privatmythen bis zu ihrer Entstehung hin zu verfolgen. Zudem ist dieser Fall ein gutes Beispiel dafür, welche penible Forschungsarbeit, meist angestoßen von den in der Karl-May-Gesellschaft versammelten begeisterten Lesern des Autors, inzwischen geleistet worden ist. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Selbst noch die entlegenste Einzelheit in Leben und Werk ist durch das Vergrößerungsglas betrachtet worden.
Im Jahr 1851 sieht der neunjährige Karl May zwei Puppenspiele: Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena und Dr. Faust oder Gott, Mensch und Teufel. Diese Erlebnisse und seine Mitwirkung bei einer Theateraufführung nach der Erzählung Preziosa von Pius Alexander Wolf (1782-1828) dürften bei ihm die Lust zum Fabulieren, aber auch den Wunsch, anderen zu helfen, geweckt haben.
»Kurze Zeit darauf lernte ich Stücke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernstthal nieder. Es handelte sich also nicht um Puppen-, sondern um wirkliches Theater. [...] Die Künstler fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen, da erschien ihm der Retter, und dieser Retter war — ich. Er hatte beim Spaziergang meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß der Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: ›Karl, hole deine Trommel herunter, wir müssen sie putzen. [...] du bist der Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht die Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht.« (Leben und Streben, S. 59)
Der neunjährige Karl May als Trommler für die in Not geratene Kunst! Als Helfer der Bedrängten. Wie oft werden die Helden in seinen Romanen in dieser Rolle auftreten!
Mit Freude erinnert sich Karl May später zurückblickend an den ihm von Kantor Strauch kostenlos erteilten Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Auch in die Volksschule geht der Junge gern, er gilt dort anscheinend als besonders begabt. Dies hat jedoch zur Folge, dass der Vater höher mit ihm hinauswill und ihn – statt ihm zu erlauben, mit anderen zu spielen – ganze Bücher abschreiben lässt und darauf drängt, er soll schon jetzt Latein, Englisch und Französisch lernen.
Todesfälle sind in der Familie häufig. 1851 stirbt Karl Mays Großmutter Friederike Weise, im selben Jahre am 20. September der erst im April geborene Bruder, 1852 stirbt die zwei Wochen alte Schwester Anna Henriette. Im Mai 1854 kommt abermals ein Bruder zur Welt, der jedoch schon im August stirbt. Elf Monate später gebiert die Mutter wiederum einen Jungen. Auch er lebt nicht länger als knapp vier Monate.
Die materielle Situation in der Familie ist und bleibt in all den Jahren schwierig. Achtzig Arbeitsstunden in der Woche muss ein Weber leisten, um die Existenz seiner Familie wenigstens notdürftig zu sichern.
Wie bedrückend die Not der Familie May ist, geht allein aus dem Speisezettel hervor: Suppen aus Kartoffelschalen; überbrühter Lattich, am Wegrand gepflückt; Mahlrückstände aus einer Mühle; vertrocknete Brötchen, die der Bäcker nicht mehr zum normalen Preis verkaufen kann und billiger abgibt.
Vor Elend und Tod flüchtet sich Karl ins Lesen. Dass Lesen bildet, davon kann in diesem Fall keine Rede sein. Die ferne Welt, die der Junge lesend aufnimmt, stürzt ihn in Verwirrung: 1854 will der Zwölfjährige, dazu angeregt von einem Auswandererzug in die Vereinigten Staaten, Englisch lernen - eine Sprache, die er ebenso wenig beherrschen wird wie die vierzig anderen Sprachen, die er später zu sprechen vorgibt! Das Geld für den Sprachunterricht verdient er sich als Kegeljunge in der Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt.
In ebendieser Wirtschaft betreibt die Frau des Wirtes eine Leihbibliothek mit immerhin 1540 Bänden. Zum Bestand gehören unter anderem Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris und Alexandre Dumas' Der Graf von Monte Christo.
»Und doch gab's in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung wie dies war, nochmals gesehen. Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in beiden Städtchen gab. [...] Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen darin zu lesen. Später sagte er, ich könne sie alle lesen, ohne dafür zu bezahlen, und ich las sie, ich verschlang sie; ich las sie drei-, viermal durch! Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen in ihn.« (ebenda, S. 59)
Freude ist selten, Freude macht es ihm, wenn sein Pate, der Schmied Christian Friedrich Weißpflug, von seinen Reisen in ferne Länder erzählt. Freude und Schauder bereiten ihm gewiss auch Bücher aus der Hohensteiner Leihbibliothek. Schundromane sind das zumeist, an die seine Feinde später mit dem Hinweis erinnern werden, hier sei der Grundstock für seine Kriminalität gelegt worden.
Die ersten literarischen Versuche Mays fallen in diese Zeit. 1853 gründete der Verleger Ernst Keil die Wochenzeitschrift Die Gartenlaube, die rasch beim Publikum sehr beliebt wurde und sich einer großen Verbreitung erfreute. Um das Jahr 1858 will May schon seine ersten Indianergeschichten zusammen mit einem langen Brief an den Verleger Keil geschickt haben, der sich immerhin die Mühe machte, die Versuche durchzusehen und den angehenden Autor, den er durchaus in dem Jungen sah, vor übertriebenen Erwartungen zu warnen. In weiteren fünf Jahren, so hieß es in dem Antwortbrief, sei er vielleicht so weit, dass man wieder einmal über eine Veröffentlichung reden könne.
Nach