In seinem mörderischen Element. Gerwalt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerwalt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145518
Скачать книгу
die Stelle gewesen sein mochte, doch der Platz passte nicht ganz zu den Schilderungen, die sie gelesen hatte. Sie ging also weiter, folgte dem Pfad nach oben. Auch der zweite Wasserfall passte nicht zu der Beschreibung. Dann erreichte sie den dritten, und sofort als sie ihn sah, wusste sie, dass es der richtige war. Naomi holte tief Luft und ließ die Szene auf sich wirken. Dem herabstürzenden Wasser gegenüberliegend gab es eine kleine ebene Fläche aus flachen Steinplatten, kleineren Felsbrocken und Kieselsteinen dazwischen. Ob der Platz nun natürlichen Ursprungs oder künstlich angelegt war, vermochte Naomi nicht zu sagen. Das Ganze machte auf sie in jedem Fall den Eindruck einer kleinen Arena mit dem Wasserfall als Bühne. Das Wasser prasselte auf eine Felsplatte, bevor es sich in das kleine Becken unterhalb der Platte ergoss. Naomi versuchte sich die nackte gefesselte Frau im eisigen Wasserstrahl vorzustellen.

       Wie lange mochte sie in der Kälte wohl noch gelebt haben?

      Eine Zeitlang verweilte sie noch vor der Kulisse des Wasserfalls, an der Stelle, an welcher vielleicht auch der Mörder gestanden haben mochte, während sein Opfer langsam den Erfrierungstod gestorben war. Dann ging sie näher an den kleinen Teich heran. Nach einigem Suchen entdeckte sie die beiden Löcher im Fels, mit denen die Stange festgemacht gewesen war. Die Stange, an der die Frau quasi gekreuzigt im tödlich kalten Wasserstrahl gestanden hatte. Die beiden Löcher im Fels waren das einzige noch sichtbare Zeichen des Mordes. Naomi zog ihre flachen Wanderhalbschuhe und die Strümpfe aus, dann krempelte sie die Hosenbeine ihrer Jeans nach oben und stieg in den flachen Teich, um sich die beiden Bohrungen näher anzusehen. Auch jetzt im Frühsommer war die Kälte des Wassers ein Schock. Die Strömung zerrte zudem mit erstaunlicher Kraft an ihren Füßen.

      Jetzt nur nicht ausrutschen, dachte Naomi. Der Gedanke, in voller Länge in das eisige Wasser zu fallen, hatte keinerlei Reiz für sie. Sie bewegte sich vorsichtig auf die Felswand neben dem Wasserfall zu. Das Spritzwasser begann, ihre Bluse zu durchnässen. Endlich hatte sie eines der Löcher erreicht und besah es sich von nahem. Es war annähernd kreisrund und maß vielleicht einen Zentimeter im Durchmesser. Naomi hob ein Stöckchen auf, das gerade vorbeischwamm, und steckte es probehalber bis zum Anschlag in das Loch hinein. Die Bohrung war etwa eine Handbreit tief.

      »Vermutlich hat er eine Akku-Bohrmaschine benutzt.«

      Naomi erschrak, als sie die Stimme hinter sich hörte, und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie drehte sich vorsichtig, um zu schauen, wer sie angesprochen hatte.

      Es ist nicht fair, dachte sie, als sie ihn gesehen hatte. Es ist kein bisschen fair, dass Apoll hier frei herumläuft. Dass er mich anspricht. Und dass ich mit hochgekrempelten Hosenbeinen, mit mindestens zehn Kilo Übergewicht im Wasser herumturne, während mir der Mann meiner Träume begegnet.

      Apoll war recht groß, aber er war kein Riese. Er hatte breite Schultern, ohne massig zu wirken, lange braune Haare, ohne wie ein Hippie auszusehen, ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und blitzenden braunen Augen, die Naomis Knie weich werden ließen. Sie stakste durch das Wasser zurück. Als sie die Böschung erreicht hatte, rutschte sie prompt aus. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren rechten Knöchel. Verzweifelt versuchte sie, einen wenig damenhaften Fluch zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht.

      Ausgerechnet jetzt musste sie umknicken! Einen Augenblick lang stützte sie sich an der Felswand ab und blieb stehen. Sie wartete, dass der Schmerz in ihrem Knöchel weniger wurde. Apoll war zu ihr geeilt, stand nun mit den Schuhen ebenfalls im Wasser und hielt sie am Arm.

      »Meinen Sie, Sie kommen die Böschung hoch?«

      Naomi winkte ab.

      »Es ist nichts.«

      Eine glatte Lüge, denn in ihrem Knöchel pochte es immer noch dumpf.

      Sie fluchte innerlich.

      Mein Gott, wie peinlich! Endlich mal ein attraktiver Mann, und ich muss mich aufführen wie ein dummes, hilfloses Weibchen.

      Sie biss also die Zähne zusammen und kletterte die Böschung wieder hinauf, Apolls Hand immer noch stützend an ihrem Unterarm. An der kleinen Freifläche angekommen, setzte sie sich auf einen Stein und betastete ihren schmerzenden Knöchel.

      »Sie interessieren sich also auch für den Mord?«, fragte sie betont beiläufig.

      »Ja. Ich wohne hier in der Gegend, da kriegt man so etwas geradezu zwangsläufig mit. Sie kommen von weiter weg?«

      »Aus Stuttgart.«

      Der Apoll grinste breit.

      »Nun ja, man kann wohl nicht alles haben. Aber Sie haben gottlob keinen schwäbischen Akzent.«

      »Ich bin Naomi Gerber. Und ich komme eigentlich nicht aus Schwaben. Ich arbeite nur in Stuttgart.«

      Der Apoll nahm ihre Hand in seine und schüttelte sie.

      »Ralf Schuhmann.«

      Ralfs Hand war groß und warm. Er ließ sie nun wieder los.

      »Ja, das Dreieck zwischen Stuttgart, Böblingen und Gesindelfingen ist ein Moloch, wo ganze Heerscharen arbeiten, alleine schon bei Daimler Benz.«

      … Moloch, in dem ganze Heerscharen …, korrigierte Naomi im Stillen.

      »Und wieso interessieren Sie sich so sehr für den Mord, dass Sie dafür ins eiskalte Wasser steigen?«

      »Berufliches Interesse«, sagte Naomi. »Ich bin Journalistin.«

      »Schreiben Sie einen Artikel über den Mord? Ist das nicht ein bisschen spät?«

      »Ja, ich schreibe darüber. Eine Art Zusammenfassung. Es ist ja wohl eine ganze Serie. Ich will versuchen, auf die Hintergründe einzugehen, eventuelle Muster herauszuarbeiten. So diese Richtung.«

      Ralf lachte.

      »Ist denn jetzt schon Saure-Gurken-Zeit?«

      »Es steckt in erster Linie etwas Persönliches dahinter.«

      »Ah.«

      Ralf fragte nicht weiter nach, was Naomi als sehr angenehm empfand.

      »Gut also: Sie sind doch aus der Gegend. Und wir sitzen hier am Tatort. Was können Sie mir über den Mord nun erzählen? Was spricht man darüber? Haben die Leute Angst vor weiteren Morden?«

      Ralf nickte.

      »Darf ich mir mal Ihren Knöchel ansehen? Bevor wir über das Verbrechen an sich plaudern, würde ich gerne wissen, ob ich Sie ins Krankenhaus schaffen muss.«

      »Kennen Sie sich denn mit Knöchelverletzungen aus?«

      »Bis auf meinen eigenen Bänderriss vor ein paar Jahren nicht besonders. Darf ich?«

      Ralf griff vorsichtig unter Naomis Wade, weit weg von der schmerzenden Stelle, und hob ihren Unterschenkel an. Naomi war unbehaglich zumute, ihre Füße waren noch nass und durch das Laufen über die Böschung auch sandig. Sie hatte ihre Füße schon immer als hässlich empfunden: mit Schuhgröße 38 waren sie zwar durchschnittlich groß, aber sie waren einfach zu breit. Sie zeigte sie nur ungern und trug, soweit es möglich war, geschlossene Schuhe. Und nun betrachtete der fleischgewordene Apoll ihren unattraktiven Fuß mit großer Aufmerksamkeit von allen Seiten.

      »So richtig dick geschwollen ist eigentlich nichts«, stellte er fest. Dann legte er zu allem Überfluss noch seine warme Handfläche unter ihre Fußsohle.

      »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann drücke ich jetzt ganz leicht nach oben. Es sollte nicht weh tun. Aber wenn Ihr Band am Sprunggelenk gerissen ist, dann lässt sich der Knöchel verschieben. Darf ich?«

      Naomi nickte.

      »Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie vertraue ich Ihnen …«, sagte sie mit bereits zusammengebissenen Zähnen.

      Ralf lächelte und drückte sacht gegen ihren Knöchel.

      »Der sitzt bombenfest«, sagte er zufrieden. »Vielleicht bleibst du noch eine Weile sitzen, bevor wir versuchen, zu deinem Auto zu kommen. Parkst du unten auf dem Wanderparkplatz? Der Ka mit dem