Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Walther
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895843
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auf »die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« reagierte (»Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit 11.7.86). Nolte hatte mit dem Titel seines Beitrags die Marschrichtung angegeben: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Im Klartext: Wer verhindert, dass die Geschichte deutscher Verbrechen endlich mit der Geschichte und den Verbrechen anderer Staaten verrechnet werden kann? Ein historisches Clearing-Verfahren zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und jenen Stalins, Pol Pots etc. war angesagt. So frontal freilich stieg Nolte nicht ein, sondern wählte den aparten Weg über die Notwehr: Vor Auschwitz war der GULag, und deshalb handelten Hitler und seine Wehrmacht aus berechtigter Angst vor der »asiatischen Tat« präventiv, als die Sowjetunion überfallen und an und hinter der Front Millionen von Menschen umgebracht wurden; Stalin als Lehrmeister Hitlers, dem Nolte in einer die neudeutsche Ideologie präzis charakterisierenden Bemerkung nur nachträgt, dem Repertoire des Terrors den »technischen Vorgang der Vergasung« (FAZ 6.6.86) hinzugefügt zu haben. Auschwitz – ein Problem von Technik und Chemie. Die Debatte schlief bald ein, weil Nolte wissenschaftlich fundierte Einwände ignoriert und seine Thesen zum Holocaust so feinsinnig weiterspinnt, dass sie von einer Rechtfertigung nur noch mit einer Lupe zu unterscheiden sind.

      B. Seebacher-B. sprach jüngst zum staatlich gehegten Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche und wiederholte fast wörtlich Noltes Kernthese: »Dass nicht aufhören kann, was nicht aufhören darf, kann und darf nicht das Maß unserer Erinnerung sein« (FAZ 15.11.93). Es geht erneut darum, Risse und Gräben in der jüngsten deutschen Geschichte zu planieren, Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu allen übrigen Toten zu legen. 1989 »stellt alles auf den Kopf, was zuvor gültig gewesen ist und was nicht«. Das betrifft auch die neue allgemeine deutsche Friedhofsordnung: Tod ist Tod und tot sowieso. Dieses Mal regiert nicht ein chronologisches Mätzchen die Revision: nach dem alten Muster post hoc, ergo propter hoc, d. h. dem historistischen Trick der Verzauberung einer zeitlichen Abfolge in ein Kausalverhältnis, hatte es Nolte versucht; und auch nicht die notorisch alles mit allem verwechselnden und damit alles verniedlichenden Vergleiche, die seit dem Golfkrieg so beliebt sind, treiben die Autorin an, sondern die Gier nach »Normalität«. »Normalität heißt, ein Deutschland wollen, das seine Kraft aus der Gegenwart bezieht.« Eine ebenso geschmackssichere wie steinerne Dummheit gegenüber Toten, die wer weiß wo sind, aber nicht in der Gegenwart.

      Zum Tod und zu Toten hat B. Seebacher-B. ein exquisites Verhältnis, das sie in den Augen der Organisatoren zur richtigen Festrednerin macht. Als vor einigen Monaten im Westteil der Republik Häuser angesteckt und Menschen verbrannten, fielen ihr dazu Sätze ein, die ihresgleichen suchen: Demnach hat man sich zu merken, »dass das Recht der Lebenden durch die Erinnerung an die Toten nicht aufgehoben und nicht einmal eingeschränkt wird. Im Leben eines Volkes ist es wie im Leben des einzelnen: Man muss sich selber achten, um andere zu achten und von anderen geachtet zu werden« (FAZ 28.1.93). Die Asche der verbrannten Türken war gerade erst erkaltet.

      Den geraden Weg zur »Normalität« versperrten bislang ein paar Millionen Vergaste, in wissenschaftlichen Experimenten Ermordete, in der Haft Erschlagene, durch Zwangsarbeit Vernichtete, von Einsatzgruppen und Wehrmacht Ermordete, von furchtbaren Juristen in den Tod Geschickte. Diese sperrige Last sollte weggeschafft werden – dauerhaft und im Namen des »Volkstrauertags«. Das ist ein durch und durch verlogenes, in keine europäische Sprache übersetzbares Wort, das seine Entstehung (1923) dem Geist von Dolchstoßlegenden und seine Wiederbelebung (1952) dem bigotten Adenauer-Regime verdankt. Seine einzig stimmige und mögliche Übersetzung erhielt es 1934 von den Nazis, die aus dem heuchlerischen »Volkstrauertag« den »Heldengedenktag« machten. Sie sollen ihren Tag wiederhaben, jene, die nach der Rede von B. Seebacher-B. in der Paulskirche »Ich hatt’ einen Kameraden« anstimmten (FR 15.11.93).

      Anderes als Ballast wegräumen wollte auch Nolte 1986 nicht, aber bevor ich auf die bemerkenswerte Reprise im Geiste der »Ideen von 1989« eingehe, lohnt sich ein Blick zurück.

      Der Zeithistoriker M. Broszat forderte schon 1985 eine »Historisierung« des Nationalsozialismus. Er redete damit allerdings nicht einer verharmlosenden Einordnung der Nazi-Zeit und der Nazi-Verbrechen ins Kontinuum der Geschichte das Wort (wie neuerdings R. Zittelmann, K. Weissmann, G. Schöllgen u. a.). Im Gegenteil: Gerade wer auf der Einmaligkeit des Verbrechens industrieller Menschenvernichtung besteht, muss zwingend – um die Einmaligkeit begreifen zu können – historische Vergleiche anstellen, um das Geschehen im historischen Kontext zu verstehen. Dieses aufklärerische Unternehmen, kritisch verstanden und nicht apologetisch im Sinne jener, die das Ganze endlich vergessen machen wollen, richtete sich auch gegen die nur noch mit beschwörenden Chiffren und pathetischen Formeln operierende Redeweise über die Nazi-Verbrechen. Dazu gehören das raunende Herzitieren von »Auschwitz« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ebenso wie das immunisierende Gerede über »Singularität« oder »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), das sich jedem rationalen Verstehen und Begreifen entziehe und entziehen solle.

      Die im Historikerstreit kulminierende Debatte hat ihren Ursprung in der »geistig-moralischen Wende«, die Kohl 1981 programmatisch verkündete. Konservative Historiker und Publizisten entdeckten daraufhin, woran es den Deutschen angeblich besonders mangelte – an »Identität«, die einige bald »nationale Identität« nannten, womit dann jeder wusste, wohin die Reise gehen sollte. Sinn- und Identitätsbastler hatten von nun an Konjunktur.

      Zum 30.1.1983, d. h. zur fünfzigsten Wiederkehr des Tages, an dem die bürgerliche Elite in Deutschland die Macht den Nationalsozialisten übergab, hielt H. Lübbe eine Rede im Berliner Reichstagsgebäude (FAZ 24.1.1983). Diese Rede markiert die konservative Trendwende mit dem Anspruch, die Nation wiederzubeleben, was freilich nur funktioniert, wenn gleichzeitig die Verbrechen, die in deren Namen begangen wurden, »normalisiert« werden. »Identität« und »Normalität« sind die Parolen, unter denen Ideologieproduzenten seither zum Halali blasen, weil Nation pur vielen noch zu schrill klang. Nach 1989 ist »Verantwortung« als Passepartout fürs Weltpolitische hinzugekommen. Im Namen der populistischen Dreifaltigkeit von »Identität«, »Normalität« und »Verantwortung« legen sie nun los, seit wir wieder »ein« Volk sind – von ganz rechts bis post-links.

      Zwar gestand Lübbe ein, dass bis 1968 »im Schutz öffentlich wiederhergestellter normativer Normalität« von den Nazi-Verbrechen außerhalb wissenschaftlicher Zirkel kaum die Rede war. Geschichte und Erinnerung (gar solche an Verbrechen, an denen Hunderttausende deutscher Männer beteiligt waren) hätten Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nur behindert. Flächendeckende Verdrängung bestimmte die politische Kultur, bis die Studentenbewegung das »kollektive Beschweigen« (Lübbe) nationalsozialistischer Verbrechen am Nierentisch ziemlich abrupt beendete. Lübbe plädierte 1983 für eine »gemeinsinnsfähige moralische und politische Normalität« als Sicherung für »die Immunität einer politischen Kultur gegen die totalisierende Machtergreifung ideologischer Heilsgläubigkeit«. Praktisch lief die Beschwörung solcher »Normalität« auf die Empfehlung hinaus, die Verbrechen gemeinsinnsfördernd Verbrechen sein zu lassen und sich im Übrigen »so einzurichten, dass, wenn auch diese Gegenwart schließlich Vergangenheit geworden ist, sie dem zustimmungsfähigen Teil der Vergangenheit zuzurechnen sein wird«.

      Normalisierte Geschichte hat eine ziemlich späte Geburt. Die Normalisierung der Vergangenheit wurde gleichzeitig regierungsamtlich vorangetrieben. Kohl traf sich am 8.5.1985 mit Reagan im Konzentrationslager Bergen-Belsen und am gleichen Tag auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Gewaltsamer wurde nie versucht, Täter – und dazu gehörten auch Wehrmacht, Reichsbahn und Verwaltungen, ohne die das System der Lager nicht funktioniert hätte – und Opfer symbolisch zusammenzuzwingen. Dazu passte, dass der damalige Fraktionschef der CDU/CSU, Alfred Dregger, der Öffentlichkeit seine Sicht des Zweiten Weltkriegs verriet: Er präsentierte sich als ein Ehrenmann, der am 8.5.1945 in Marklissa (Schlesien) nichts anderes als den Westen gegen den Bolschewismus verteidigt habe. Schneidig. Ins Deutsche übersetzt: Die alliierten Truppen, die Europa von Westen her von der Barbarei befreiten, fielen Dregger und seinesgleichen in den Rücken – mitten im Kampf gegen den Bolschewismus. Notorisch waren in jener Zeit die Zurufe des Vernunft-Atlantikers und Herz-Jesu-Nationalisten F. J. Strauß, endlich die »Büßerhemden« auszuziehen, um aus dem »Schatten der Vergangenheit« herauszutreten.

      Stil und intellektuelles Niveau des übrigen Bonner Personals verschaffen dem Bundespräsidenten Weizsäcker einen