Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flichy De La Neuville
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783864081903
Скачать книгу
zunutze, um sich zu vergrößern. Ab 2007 wurde die religiöse Indoktrinierung in der Bewegung verstärkt und vereinheitlicht, während das amorphe Gebilde von al-Qaida doktrinäre Unterschiede durchaus zuließ. Nach Abu Umar al-Baghdadis Tod wurde Abu Bakr al-Baghdadi zu seinem Nachfolger bestimmt. Er leistete einen Gefolgschaftseid auf Aiman az-Zawahiri, den Stellvertreter von Osama bin Laden seit dessen Tod im Mai 2011. Durch den Anschluss an al-Qaida profitierte Da‘ish von den Ratschlägen, Trainingslagern, Netzwerken und vor allem vom Ansehen der Terrororganisation.

      Man zählt noch ein gutes Dutzend weiterer Organisationen, die alle aus Katiba, kleinen autonomen Kampfgruppen, bestehen. Geheimdienst haben allein in Syrien 7.000 davon ausgemacht. Das Ganze ist ein amorphes Gebilde, dessen Teile über vasallenartige Bande mit einem Chef verbunden sind, der eine Art mittelalterlicher Emir ist. Aus diesen sehr flexiblen, wenig hierarchischen Gruppierungen entsteht schließlich das Islamische Kalifat.

      Um dem von al-Qaida geschürten Chaos zu begegnen, suchten die irakische Regierung und das amerikanische Militär auf Betreiben von US-General David H. Petraeus ab 2007 auch den Rückhalt der im Zentrum des Landes beheimateten sunnitischen Stämme. Zu diesem Zweck bildeten sie sogenannte Sahwa-Komitees (as-sahwa bedeutet „Erwachen“). Diese Milizen aus Aushilfs-Sicherheitskräften stellten so etwas wie sunnitische Nationalgarden dar und wurden mit Waffen ausgestattet, um die islamistischen Bewegungen zu bekämpfen. Mehr als 100.000 Stammeskämpfer dienten dem irakischen Staat mit der Aussicht, eines Tages in die Ränge der staatlichen Sicherheitsdienste aufgenommen zu werden.13 Tatsächlich konnte auch dank der Hilfe dieser Milizen und der durch sie vertretenen Stämme über mehrere Jahre hinweg die Zahl der Toten und der Anschläge vermindert werden.

      Doch Ministerpräsident Nuri al-Maliki (2006–2014) war zu schwach, um eine Einigung herbeizuführen, und er ließ zu, dass sich das Chaos in einem Land ausbreitete, in dem das Miteinander der Volksgruppen bis 2003 auf Unterdrückung der einen und Begünstigung der anderen beruhte. Der starke Einfluss der USA auf die irakische Regierung untergrub deren Legitimität, eine Politik des Ausgleichs wurde nicht eingeleitet. Ein Beispiel: Die im September 2005 gemeinsam von 10.000 irakischen und amerikanischen Soldaten durchgeführte Offensive gegen Aufständische in Tal Afar zwang an die 300.000 sunnitischen Turkmenen zur Flucht. Die Stadt Tal Afar galt als Hochburg der von al-Qaida gesteuerten irakischen Guerilla. Ziel war die Jagd auf Terroristen, aber es war die gesamte Bevölkerung, die unter den Razzien zu leiden hatte und aus ihren Häusern vertrieben wurde. Dieser amerikanisch-irakische Überfall beeinträchtigte unmittelbar die ohnehin schon geringe Akzeptanz des irakischen Staates unter Besatzungsstatut. Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten: Die Offensive gegen Tal Afar wurde am 10. September eingeleitet, vier Tage später erschütterte darüber hinaus eine Serie von elf Anschlägen, die gegen Schiiten gerichtet waren, die Hauptstadt Bagdad.

      Der Abzug der amerikanischen Truppen wurde von US-Präsident Barack Obama zwar beschleunigt und war Ende 2011 abgeschlossen, aber damit wurde Ministerpräsident al-Maliki, der auch im eigenen Lager umstritten war, allein die Regierung seines zersplitterten Landes überlassen. Sein autoritärer Regierungsstil schürte den Hass der sunnitischen Stämme und ebnete den Weg für ihren Anschluss an jene Gruppierungen, die später Da‘ish gründeten. Al-Maliki ließ die Sahwa-Komitees auflösen und brach damit sein Versprechen auf offizielle Anerkennung ihrer Dienste.14 Immer wieder wurden Sunniten durch schiitische Milizen und Soldaten gedemütigt, ob bei Polizeikontrollen, in Gefängnissen oder auf der Straße; Prügel, Beleidigungen, sogar Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Dörfer wurden bombardiert. Laut UN-Angaben wurden allein 2013 insgesamt 8.000 Menschen getötet. In den Medien beschimpfte der Ministerpräsident die „Aufsässigen“ pauschal als Agenten von al-Qaida. Die dadurch geschürte Entrüstung war ein günstiger Nährboden für die Ausbreitung des religiösen Extremismus unter den Sunniten.

      2013 richtete der in Falludscha und Ramadi allgegenwärtige Stamm der Jumaila, der die amerikanischen Soldaten bekämpft hatte, als Gegenkraft zu den Streitkräften al-Malikis eine militärische Kommandoeinheit aus Klanführern und ehemaligen Saddam-Offizieren ein, um den Volkswiderstand zu mobilisieren. Shaikh Hamud al-Jumaili leitete die Operationen: Schutzmaßnahmen und öffentliche Kundgebungen (Demonstrationen, Sit-ins).15 Doch im November 2013 wurde al-Jumaili durch Regierungstruppen gefangengenommen und ermordet. Auf dieselbe Weise wurden noch weitere sunnitische Oberhäupter gefasst und umgebracht, darunter im Januar 2014 auch der Abgeordnete Ahmad al-Alouani.16 Zur selben Zeit eroberten ISIS-Dschihadisten mehrere Viertel von Falludscha; Teile der Bevölkerung flohen aus der Stadt, die Männer bildeten Selbstverteidigungsmilizen und schlossen sich den ISIS-Leuten an, um die „antiterroristische“ Offensive der Regierungstruppen aufzuhalten.17

      Diese beschossen, Human Rights Watch zufolge, ein Krankenhaus und Wohnquartiere mit Fässern voller Sprengsätzen. Für viele sunnitische Iraker war al-Maliki eine Marionette im Dienste Teherans, das auf eine iranische Vergeltung für den irakisch-iranischen Krieg von 1980–1988 sann.18 Eine neue Anschlagsserie gegen die Schiiten war die Reaktion, und das Ansehen von al-Qaida wuchs weiter, ganz ohne dass das im Untergrund operierende Netzwerk seine Präsenz vor Ort ausbaute.

      Bei der Bildung der irakischen Regierung im Jahr 2003 erfolgte die Vergabe der wichtigsten Ämter nach konfessionellen und ethnischen Kriterien, nicht nach individuellem Verdienst um das Gemeinwohl. Die Hilfe des Westens für den Wiederaufbau des Landes floss hauptsächlich in die Ölförderanlagen, wobei systematisch amerikanische Firmen bevorzugt wurden; die Iraker wurden nicht zurate gezogen.19 Das Ende der US-amerikanischen Präsenz im Irak hat auch das Schicksal eines moribunden Staates besiegelt, in dem ausnahmslos alle Ministerien im eigenen – regionalen oder ethnischen – Interesse tätig waren. Davon zeugen die zahllosen Demonstrationen gegen die Staatsmacht, von denen einige in einem Blutbad endeten, so in Huweidscha im April 2013, als bei Zusammenstößen mehr als 50 Menschen starben.20 Dieses wiederholte Blutvergießen hatte politische Konsequenzen: Zwischen März und April verließen vier Minister sunnitischer Konfession die Koalitionsregierung. Dass es schlecht um den Staat bestellt war, war allenthalben ein offenes Geheimnis.

      Ein weiterer Auslöser für die Entstehung des Islamischen Staates war der Krieg in Syrien.21

      Im März 2011 kam es in zahlreichen Städten zu friedlichen Demonstrationen gegen das autoritäre Regime von Baschar al-Assad. Obwohl sie von den staatlichen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen wurden, weitete sich die Protestbewegung aus und ergriff auch Teile der syrischen Armee. Die Überläufer bildeten die laizistisch ausgerichtete Freie Syrische Armee (FSA). Al-Assad reagierte mit Gewalt auf die Rebellion. Ende 2011 schlugen die Auseinandersetzungen in einen bewaffneten Konflikt und in einen Bürgerkrieg um. Ab 2012 erhielt die FSA Unterstützung durch die Arabische Liga und die wichtigsten westlichen Staaten, die sich bereit erklärten, die Rebellen via Türkei, Katar und Saudi-Arabien mit Waffen zu beliefern. Diese Verbindungen erleichterten gleichzeitig die Einreise von zahlreichen Unterstützern des Dschihad ausländischer Herkunft: Algerier, Libyer und auch Europäer mit Migrationshintergrund. Die Freie Syrische Armee musste sich mit den Neuankömmlingen arrangieren, die sie nicht unter Kontrolle hatte und die völlig andere Ziele verfolgten. Baschar al-Assad wiederum erhielt bedingungslose Unterstützung von der libanesischen Hisbollah und vom Iran.22 Russland zeigte sich wohlwollend gegenüber Syrien, zu dem es seit den 1950er Jahren besondere Beziehungen unterhält. So kam es, dass innerhalb nur weniger Monate die politischen Auseinandersetzungen in einen religiösen Konflikt umschlugen: Die sunnitische Bevölkerungsmehrheit (70 %) stellte sich gegen die Minderheiten, die streng konservativen Sunniten machten Front gegen die Schiiten und Alawiten23, denen sich schon bald die christlichen Minderheiten anschlossen.24 Annähernd 200.000 Menschen – Kurden und Araber – flüchteten in Richtung irakische Grenze. Im Jahr 2012 nahm allein die irakische Provinz Anbar mehr als 20.000 Flüchtlinge auf.25 Dabei gelangten vermutlich auch Dschihadisten ins Land und schlossen sich der irakischen Zelle von al-Qaida an.

      Der syrische Bürgerkrieg bereitete den idealen Nährboden für die Entstehung des Islamischen Staates: Abseits des Blickfelds der