Das Weltkapital. Robert Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783862870820
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nun in der dritten industriellen Revolution als gesellschaftliche Reproduktionsform zerrissen.

      Wir haben es also nicht nur mit einem logischen oder strukturellen Widerspruch von Nationalökonomie und Weltmarkt sowie einem in diesen Bezugsräumen sich vollziehenden Widerspruch von »abstrakter Arbeit« und Abspaltungsverhältnis zu tun, sondern dieser Widerspruch hat sich auch als ein bestimmter historischer Prozess entfaltet. War die Nationalökonomie ursprünglich ein Produkt des (selber noch unentwickelten) Weltmarkts, so entwickelte sich dieser in der Folge erst zusammen mit den Nationalökonomien und als sekundärer Austausch zwischen diesen, um schließlich am Ende des 20. Jahrhunderts die nationalökonomische Kohärenz wieder zu zersetzen und schubweise aufzulösen. Damit verbunden ist die strukturelle Konstitution, historische Ausformung und schließliche »Verwilderung« (Roswitha Scholz) und Zersetzung des basalen geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses mit seinen durchaus auch ökonomisch-politischen (bzw. in Ökonomie und Politik »unsichtbar« eingefalteten) Reproduktionsfunktionen.

      Je mehr es sich aber auf diese Weise globalisiert und damit in einen unregulierten, nicht mehr abgepufferten Raum entzieht, desto mehr zerstört das Kapital seine eigenen national-ökonomischen und sozial-abspaltungslogischen Existenzbedingungen, was nur die Folge davon ist, dass es zusammen mit der im großen Maßstab überflüssig gemachten menschlichen Arbeitskraft seine eigene ökonomische »Substanz« außer Kurs setzt und sich auf seinen eigenen Grundlagen ad absurdum führt. Nur vor diesem Hintergrund sind die Erscheinungen zu erklären, die von der Globalisierungsdebatte bis jetzt so begriffs- und zusammenhanglos wahrgenommen werden.

       Das Theorem der komparativen Vorteile

      Natürlich hat das herrschende akademische, politische und ideologische Denken nicht das geringste Interesse daran, die zu beobachtenden Erscheinungen der kapitalistischen Globalisierung auf ihren Krisenbegriff zu bringen. Stattdessen greift man theoretisch auf die ältesten Hüte zurück, um eine Verträglichkeit von Globalisierung und nationalökonomischer bzw. sozialökonomischer Struktur zu suggerieren, also die reale Zuspitzung des Selbstwiderspruchs wegzuleugnen und die Weltkrise in lauter »Chancen« umzudefinieren.

      Das theoretische Konstrukt, mit dem die wirtschaftswissenschaftliche Zunft dabei unverdrossen hausieren geht, ist das sogenannte »Gesetz der komparativen Kosten« oder der »komparativen Vorteile«. Dieses angebliche Gesetz, aufgestellt von David Ricardo (1772-1823), dem neben Adam Smith bedeutendsten Klassiker der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre, soll die Vorteile der »internationalen Arbeitsteilung« zwischen kapitalistischen Volkswirtschaften beweisen. Es ist daher zugleich ein freihändlerisches Credo gegen nationalökonomische Abschottung, Schutzzollpolitik und staatliche Reglementierung des Außenhandels. Kein Wunder, dass dieses Theorem heute wieder eifrig bemüht wird, scheint es doch nicht nur argumentative Gehhilfen für die selber gedankenlos gewordene theoretische Analyse der kapitalistischen Entwicklung durch die offizielle bürgerliche Wissenschaft zu bieten, sondern auch wunderbar zum neoliberalen ideologischen Weltkonsens zu passen.

      Natürlich wird niemand etwas dagegen einzuwenden haben, dass durch die Teilung von Funktionen der Reproduktion Mühe und Aufwand gespart werden, was zur Erleichterung und Verbesserung des Lebens beiträgt. Und bei entwickelten Produktivkräften, also auch Kommunikations- und Verkehrsmitteln, ist ein derartiges Zusammenwirken in der Tat nicht allein auf lokaler und regionaler oder nationaler, sondern auch auf weltgesellschaftlicher Ebene praktisch möglich.

      Die liberale Ideologie des Kapitalismus beginnt immer mit zunächst einleuchtend scheinenden, einfachen und durchsichtigen Erwägungen in Bezug auf Bedürfnisse, materielle Güter, menschliche Potentiale usw., in denen sie aber wie ein Trickbetrüger regelmäßig die irrationalen kapitalistischen Voraussetzungen entweder verschweigt oder sie klammheimlich hintenherum einschmuggelt, sodass das wirkliche Resultat ein ganz anderes ist, als es das Räsonnement versprochen hat. Auch Ricardo bemüht in seinem Hauptwerk »Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung« zunächst den gesunden Menschenverstand, um sein Theorem zu begründen:

      »Es ist für das Wohl der Menschheit ... wichtig, dass unsere Genüsse durch bessere Arbeitsverteilung erhöht werden sollten, d.h. dadurch, dass ein jedes Land solche Güter erzeugt, für welche es sich infolge seiner Lage, seines Klimas und seiner anderen natürlichen oder künstlichen Vorteile eignet, und dass man sie für die Güter anderer Länder austauscht ... Unter einem System von vollständig freiem Handel widmet natürlicherweise jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Verwendungen, die für es am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Nutzens ist wunderbar mit der allgemeinen Wohlfahrt der Gesamtheit verbunden. Indem es den Fleiß anregt, die Erfindungsgabe belohnt und am erfolgreichsten die besonderen Kräfte, die von der Natur verliehen sind, ausnutzt, verteilt es die Arbeit am wirksamsten und wirtschaftlichsten; während es durch die Vermehrung der allgemeinen Masse der Produktionen allgemeinen Nutzen verbreitet und die Universalgesellschaft der Nationen der zivilisierten Welt durch ein gemeinsames Band des Interesses und Verkehrs miteinander verbindet. Dieser Grundsatz ist es, welcher bestimmt, dass Wein in Frankreich und Portugal, Getreide in Amerika und Polen angebaut und Metall und andere Waren in England verfertigt werden sollen« (Ricardo 1980/1817, 110 f.).

      Das klingt alles nur deswegen gut, weil Ricardo hier gänzlich von kapitalistischen Kategorien und Kriterien abstrahiert und so tut, als hätten wir es gewissermaßen nur mit naturalen Faktoren zu tun. Wäre es so, dann würden allerdings die Menschen in verschiedenen Weltregionen nach gemeinschaftlicher Absprache über die wechselseitigen Bedürfnisse und Möglichkeiten direkt füreinander produzieren, und es gäbe wohl einen weltumspannenden Gütertransport, aber keinen Weltmarkt, keine Konkurrenz und übrigens auch keine Nationalökonomien und Nationalstaaten; ebenso wenig ein geschlechtliches Abspaltungsverhältnis. Unter den Bedingungen von Markt, Konkurrenz und Nationalökonomie als Sphären und Bedingungen der Kapitalverwertung sieht die Sache aber ganz anders aus – und Ricardo selbst argumentiert in Wahrheit unter der Fragestellung, wie die Profitrate zu erhöhen sei!

      Profit ist aber nichts anderes als Plusmacherei in der reinen Geldform; eben der kapitalistische Selbstzweck, aus Wert mehr Wert und damit aus Geld mehr Geld zu machen, was auf der Ebene bloß naturaler Produkte ein völliger Widersinn wäre. Bei seiner Erörterung der internationalen ökonomischen Beziehungen tut Ricardo nun plötzlich so, als ginge es gar nicht um den Profit in der Geldform, sondern allein um die naturale, technische Arbeitsteilung. Zwar muss er zugeben, dass sich die Transaktionen vermittelt durch Geld (damals noch in Gestalt von Edelmetall) abspielen; dies Faktum soll jedoch angeblich keinerlei eigenständige Bedeutung haben:

      »Da man das Gold und Silber nun einmal zum allgemeinen Maßgut der Zirkulation gewählt hat, werden beide durch den Wettbewerb im Handel in solchen Mengen unter die verschiedenen Länder der Erde verteilt, dass sie sich dem natürlichen Verkehr, welcher eintreten würde, wenn keine derartigen Metalle existierten und der Handel zwischen den Ländern ein bloßer Tauschhandel wäre, von selbst anpassen« (Ricardo 1980/1817, 113).

      Ricardo vertritt hier die Auffassung vom »Geldschleier«, wonach das Geld ein bloßer »Schleier« über naturalen Austauschbeziehungen und als bloß vermittelndes Medium bei der ökonomischen Analyse quasi zu vernachlässigen sei. Indem so vom kapitalistischen Charakter der Austauschverhältnisse abgesehen und klammheimlich auf die Ebene einer bloß naturalen Beziehung übergegangen wird, kann die vermeintliche gegenseitige »komparative« Vorteilhaftigkeit selbst bei unterschiedlicher Produktivität abgeleitet werden:

      »Hätte Portugal mit anderen Ländern keine Handelsbeziehung, so würde es gezwungen sein, statt einen großen Teil seines Kapitals und seines Fleißes zur Erzeugung von Weinen zu verwenden, mit denen es für seinen eigenen Konsum Tuch- und Metallwaren anderer Länder ersteht, einen Teil dieses Kapitals in der Fabrikation dieser Güter anzulegen, die es wahrscheinlich auf diese Weise in geringerer Qualität und Quantität erhalten würde. Diejenige Weinmenge, welche es im Tausche gegen englisches Tuch hingeben muss, wird nicht durch die betreffenden Arbeitsmengen bestimmt, welche der Produktion jedes dieser Güter gewidmet wird, wie das der Fall wäre, wenn beide Güter in England oder in Portugal erzeugt würden. England kann vielleicht so gestellt sein, dass man zur Tuchfabrikation der Arbeit von 100 Mann auf ein Jahr bedarf; und