Alle Zeitfenster auf Kippe. Fritz Eckenga. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fritz Eckenga
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862870257
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ihr Unwesen trieben. Die Schwimmtonnenschlachten waren wilde Abenteuer, zumal man ständig gegen die anderen Tonnen-Fahrer bestehen musste, die einen rammen wollten. Viele von uns hätten damals eigentlich verbluten, noch viel mehr ertrinken müssen. Die meisten haben überlebt – ich weiß bis heute nicht, warum.

      Ich bin mehr als fünzig Jahre älter und nicht wenige Dinge um mich herum sind nach und nach kleiner geworden. Robinson-Teiche, Sessellifte und Blumenfelder haben im Laufe der Zeit sogar einen erheblichen Schrumpfungsprozess durchgemacht.

      Einige Dinge jedoch haben wunderbarer Weise nichts, aber auch gar nichts von ihrer Größe verloren. Dazu zählt der Florianturm im Westfalenpark, sowie ausnahmslos alle Arbeitsgeräte von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten.

      Ach ja – und das sollte nicht unerwähnt bleiben. Eins gibt es, das wird, je älter ich werde und je entschlossener ich kein Tagebuch schreibe, eins gibt es, das wird sogar immer noch größer: Mein phänomenales Erinnerungsvermögen.

      Der Sommer der Kuh

      Ostenhausen. Manchmal legt Silke nachmittags ihre alte Lieblingsscheibe auf und tanzt sich zurück in den Sommer von 1973. Es war der Sommer der Kuh. Silke und die anderen aus der Ostenhausener Klicke waren an einem Wochenende im Juni nach Dortmund gefahren. Jürgen hatte auf dem Flohmarkt für unglaubliche sechs Mark ein guterhaltenes Exemplar von Atom Heart Mother gekauft. Von dem Tag an trafen sich die beiden, so oft es nur ging. Am besten war es bei ihm, denn Jürgen hatte eine eigene Wohnung und eine super Anlage. Atom Heart Mother war der Soundtrack ihrer Sommerliebe. Schon beim ersten Stück musste Silke immer aufpassen, dass der Rausch sie nicht völlig überwältigte. Es dauert ja sagenhafte 20 Minuten.

      Im Oktober 73 zog Jürgen zum Studieren nach Kassel und schenkte Silke zum Abschied das Album. Zwei Jahre später heiratete sie Wilfried.

      Das unten anhängende Gewächs

      Ein paar Bemerkungen anlässlich des Valentinstages

      Jedes Jahr am 14. Februar ist Valentinstag. Viele von uns erfahren davon immer kurz vorher aus den Verbrauchernachrichten und treffen sich dann nachts in der Tankstelle ihres Vertrauens. Dort gibt es auch zur Geisterstunde noch alles, was man braucht, um die Herzensangelegenheit geschmeidig abzuwickeln. Zum Beispiel Überraschungseier. Nun aber zum Hintergrund.

      Es gibt unzählige Mythen, die sich um den Ursprung dieses Tags der Liebenden ranken. Viele, die meisten, haben einen sogenannten »religiösen« Hintergrund. In ihnen ist von der Ankunft des himmlischen Bräutigams Jesus die Rede. Oder von Bischof Valentin von Terni, der im 3. Jahrhundert lebte und als christlicher Märtyrer starb. Mit allen unangenehmen und bis heute unappetitlichen Folgen. Zahlreiche Skelette des Bischofs klappern um die Wette. Viele europäische Kirchengemeinden streiten sich darum, welche denn nun die Reliquien, also die Originalknochen des italienischen Liebestagsstifters besitzt. Andere Legenden gehen noch den einen kleinen logischen Schritt weiter, also vom Spirituellen zum Spirituösen. Manche Liebenden, so steht es geschrieben, hätten den berauschten Zustand der hormonellen Unordnung mutwillig mit hochprozentigem Treibstoff angefeuert, vulgo: Sich diese oder jenen schlicht und ergreifend schöngesoffen.

      In Wahrheit ist es selbstverständlich so, dass der V-Tag den allermeisten Menschen ungeheuer viel bedeutet. Den Frischverliebten, den Gutabgehangenverliebten, den Schon- und Baldvermählten, den Nochnichtgeschiedenen, vor allem aber natürlich den Parfüm- und Blumenhändlern, die die Deutschland-Verwertungsrechte an diesem Feiertag in den fünfziger Jahren vom Lizenzinhaber gekauft haben. Es handelt sich um einen US-amerikanischen Mischkonzern. Er verschachert unter anderem Olivenöl, intelligente Waffensysteme, Tomatenketchup, Doktortitel, Solarstromanlagen und arabische Diktatoren. Außerdem vergibt er Lizenzen für Feiertagsmarken wie Halloween, internationaler Frauentag, Tag des Waschlappens und eben auch Valentinstag.

      Zum artgerechten Umgang unter Liebespaaren gehört ja vor allem die richtige Ansprache. Er nennt sie zärtlich »Kätzchen«, sie entgegnet mit einem angemessenen »Hase«. Das sind natürlich nur willkürlich aus dem Bussi-Brehm herausgepickte Beispiele. Der erotozoologischen Phantasie sind da überhaupt keine Grenzen gesetzt, wobei schon auffällig ist, dass die beliebtesten tierischen Koseformen mindestens niedlichen, etwa »Mäuschen«, meistens aber flauschigen Ursprungs sind. »Chinesischer Nackthund« zum Beispiel kommt meines Wissens so gut wie nie vor. Selten hört man auch von Liebenden, die sich gegenseitig »Glatthaardackel« nennen. Besser, die Süßen haben ein Fell, noch besser, einen Pelz. »Bär« ist ganz groß im Rennen, »Bärchen« noch beliebter, wobei die Anwender ja keine Ahnung haben, wie schlimm die Viecher aus dem Hals riechen. Ungefähr so übel wie der Heringsfresser Pinguin, was dessen allgemeiner Beliebtheit aber keinen Abbruch tut.

      Wenn es einen erwischt hat, hat es einen erwischt. Da kann man nichts machen. Da wird was mit einem gemacht. So, als würde man ferngesteuert. Wieso sind wir manchmal so besinnungslos verknallt? Woher kommt das? Das kommt von der Libido. Libido ist lateinisch und bedeutet »Begehren, Begierde, Wollust«. Mit der Libido verhält es sich, was ihren Wohnsitz angeht, ungefähr so wie mit der Seele. Man weiß, man hat eine, man weiß aber nicht, wo man sie hat. Was man weiß, ist, von wem die Libido mit Kraftstoff betankt wird: Vom »unten anhängenden Gewächs«. Nein, das ist jetzt nicht das, was Sie denken. Sie denken zu niedrig. Das unten anhängende Gewächs hängt zwar unten, aber nicht unten unter dem Gürtel, sondern unten im Gehirn. Damit es nicht dauernd mit etwas Vulgärem verwechselt wird, lässt sich das unten anhängende Gewächs viel lieber mit seinem lateinischen Namen ansprechen: Hypophyse. Und wenn schon auf deutsch, dann so: Hirnanhangdrüse. Wenn die Hypophyse unter Volllast arbeitet, drüst sie wie nichts Gutes und flutet die labile Libido mit einem nicht endenwollenden Hormonstrom, einem wahren Sekret-Tsunami. Da sich der ganze Vorgang im Gehirn abspielt, wird der dort ebenfalls ansässige Verstand vorübergehend außer Kraft gesetzt. In dieser bio-chemisch verursachten Denkpause ist der Mensch dann in der Lage, Sätze zu sagen, zu denen er sonst nicht fähig ist. Zum Beispiel: »Ich kann ohne dich nicht leben.« Irgendwann aber zieht sich die Flut zurück. Der gewöhnliche Verstand erhebt sich nach und nach aus den moddrigen Feuchtgebieten. Es ist Ebbe. Und dann ist manchmal gar keiner mehr da, mit dem man durch das Watt waten kann.

      Der schönste Platz ist immer an der Theke

      Werner (W) und Bernd (B)

      W: Prost.

      B: Prost.

      W: Was macht die Frau?

      B: Die will unbedingt mal weg. Sie sagt, sie braucht mal Tapetenwechsel.

      W: Tja, alle wollen immer weg. Und wenn sie dann weg waren, dann kommen sie wieder und sagen, zuhause wär’s am schönsten.

      B: Das kann meine doch gar nicht beurteilen. Die war ja noch nie weg.

      W: Glaub’s mir. Meine Frau, die war schon oft weg. Und immer, wenn sie wieder gekommen ist, hat sie gesagt, zuhause isses doch am schönsten.

      B: Glaub’ ich nicht, dass meine das sagen würde. Ich glaub’, wenn die einmal das Meer sehen würde, die würd’ gar nicht wiederkommen.

      W: Meine Frau war oft am Meer. Sie sagt immer, »am Meer isses schön. Aber nach zwei Wochen kann ich den Fisch nicht mehr riechen.«

      B: Prost.

      W: Prost.

      B: Freitags kocht meine Frau immer Fisch. Immer Fisch. Seit 20 Jahren, jeden Freitag. Und Senfsoße. Ich glaub’, meine Frau würd’ sich am Meer sauwohl fühlen.

      W: Und du?

      B: Ich mag keinen Fisch. Fisch hat keine Seele.

      W: Woher willst du das denn wissen?

      B: Da hab’ ich ’n Gespür für. Du musst so’m Tier ja nur mal in die Augen kucken. Wenn dich ’n Fisch ankuckt, der kuckt wie tot.

      W: Du hast doch noch nie ’n toten Fisch gesehen. War ja immer dick Senfsoße drauf.

      B: Das spielt keine Rolle. So’n Stück Roastbeef ist auch tot. Aber das siehst du noch, wenn du das anschneidest und der Saft läuft raus, dass das Tier ’ne Seele hat. Ich hab das jetzt im Fernsehen gesehen. Die Buddhisten, die essen kein Fleisch. Die essen nur Fisch, weil Fisch keine Seele hat.