Frau W. diskutiert mit Jesus. Dorothee Bertschmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothee Bertschmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783290177287
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und öffnet sogar den Siphon in der Küche. Kein Ring.

      Donnerstag, 30. Januar

      Eine weitere Suchaktion findet statt, in deren Verlauf Frau W. den Handarbeitskorb durchwühlt, alle Schubladen in der Küche aufreisst und sämtliche Manteltaschen umdreht. Frau W. erzählt zwei Freundinnen am Telefon, dass ihr liebster, unersetzbarer Rubinring verschollen ist. Sie ist den Tränen nah.

      Freitag, 31. Januar

      Beim Abendessen sagt Frau W.s Mann: «Jetzt lass es aber gut sein. Wenn ich denke, wie viele Schmuckstücke du noch hast in deinen hundert Kästchen.» Frau W. schreit und weint und knallt die Tür zu. Herr W. merkt, dass er etwas Falsches gesagt hat.

      Samstag, 1. Februar

      Die Polizei weiss nichts von einem Ring, der aussieht wie der von Frau W.

      Frau W. merkt, wie nahe daran sie ist aufzugeben.

      Sonntag, 2. Februar

      Der Ring ist wieder da! Er liegt in der Fruchtschale zwischen einer Banane und zwei Orangen. Keiner weiss, wie er ausgerechnet dorthin gekommen ist. Frau W. stösst einen Freudenschrei aus beim Anblick des kleinen roten Steins. Sie lacht und weint vor Freude. Frau W. ruft vier Freundinnen an und erzählt ihnen, dass ihr Ring gefunden wurde. Herr W. bekommt einen Kuss.

      Montag, 3. Februar

      Frau W. backt einen Kuchen und kauft eine Flasche Champagner, sechs Lachsbrötchen und eine Schachtel Pralinen. Sie erzählt dem Metzger, dem Arzt, der Abteilungsleiterin im Warenhaus und allen, die ihr über den Weg laufen, dass ihr Ring gefunden worden ist. Sie sagt das Fitnesstraining ab und feiert stattdessen mit fünf Freundinnen eine fröhliche Party. Denn ihr Ring ist wieder da!

      So ähnlich erzählt es Jesus im Lukasevangelium im 15. Kapitel. Und fügt hinzu: «Stellt euch vor, wie sehr sich diese Frau freut, wenn sie findet, was sie verloren glaubte. Und genauso freuen sich die Engel und der ganze Himmel, wenn ein einziger Mensch zu Gott umkehrt, der nichts mehr von ihm wissen wollte.» – oder vielleicht sogar noch mehr, ist man geneigt zu denken ...

      Oder welche Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine davon verloren hat, zündet nicht ein Licht an, kehrt das Haus und sucht eifrig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte. So, sage ich euch, wird man sich freuen im Beisein der Engel Gottes über einen Sünder, der umkehrt.

      Jesus in Lukas 15,8–10

      Ach ja, denkt Frau W. Die Schwiegereltern und die Nachbarn kann man sich nun mal nicht aussuchen … Der Nachbar von unten links, Eugen Motzle (der Name ist Programm!) hat gestern grämlich auf die Vase mit den blühenden Zweigen vor ihrer Wohnungstür geschaut und gesagt: «Ich gehe davon aus, Frau W., dass Sie die abgefallenen Blüten selber zusammenkehren. Dies kann unmöglich die Aufgabe des Hausmeisters sein.»

      Es ist auch fast unmöglich, es Motzle recht zu machen. Ständig findet er ein Haar in der Suppe. Oder besser gesagt: eine Textilfaser in der Waschmaschine, einen Fussabdruck im Treppenhaus. Die Haustür, die eine Sekunde zu lang offen steht («Wir heizen, Frau W.!»)

      Frau W. will ja nicht so sein, er hatte offenbar eine schwere Kindheit, aber dieser Mensch ist ein richtiger Griesgram. Vis-à-vis wohnen Karanovics, oder wie auch immer man das ausspricht. Nette Leute so weit, aber unglaublich laut. Sie ist ja gar nicht etwa rassistisch, aber Schweizer würden den Fernsehapparat nie so laut aufdrehen, denkt Frau W. Und die Kinder dürfen einfach alles, tragen zu nichts Sorge. Heute scheint eines Geburtstag zu haben. Kreischend und lachend hopst ein halbes Dutzend Kinder im Treppenhaus herum, sie sind wie Indianer bemalt und haben klebrige Kuchenreste im Gesicht und an den Händen. Frau W. schleppt mit missbilligenden Blicken ihre Taschen mit dem Wocheneinkauf die Treppe hoch. Sie sieht sofort, dass ihre kostbare Vase mit den Zweigen nicht mehr da ist. Frau W. reicht’s! Bestimmt ist eines der Kinder in die Vase gerannt, die Mama hat schnell die Scherben weggeräumt, und dann will es wieder niemand gewesen sein. Ist der Motzle eigentlich auch da? Der sollte diesem wilden Treiben mal einen Riegel vorschieben! Da steht er, der Eugen, hat die Hände in den Hosentaschen und schaut mit breitem Lächeln den Kindern zu: «Ist das nicht schön, wie die Kinder spielen können», sagt er zu Frau W. Frau W. ist einigermassen verblüfft. Herr Motzle hat eine weiche, freundliche Seite? Das wusste sie nicht. Oder wollte sie es einfach nicht sehen?

      Es ist Abend. Ruhe ist eingekehrt. Es klingelt an Frau W.s Tür und die Nachbarin Ifeta Karanovic steht etwas verlegen da, die Vase mit den Zweigen in der Hand. «Sie nicht da sein, Frau W., da habe ich Blumen zu mir genommen, damit Kinder nicht kaputtmachen», erklärt sie. Sie streckt Frau W. einen Teller mit Süssigkeiten entgegen und fragt: «Sie wollen?»

      Später sitzt Frau W. etwas beschämt in ihrer Wohnung und denkt nach. Herr Motzle ist freundlich, Frau Karanovic sorgfältig. Ganz entgegen ihrem Vorurteil. Vorurteile sind Vor-Verurteilungen, denkt Frau W. Von Anfang an legt man seine Mitmenschen auf ein Bild fest, nimmt gezielt nur das wahr, was dazu passt. Hat nicht Jesus einmal gesagt, man solle seinem Nächsten nicht sieben-, sondern siebenundsiebzigmal vergeben? Vergeben, sinniert Frau W., das heisst doch auch reinen Tisch machen, von vorn anfangen. Dem anderen die Chance geben, anders zu sein als gestern, anders als vor zehn Minuten. Dem anderen Gutes zutrauen, ihm Freiraum geben.

      Als Frau W. so weit ist in ihren tiefsinnigen Gedanken plärrt vis-à-vis in voller Lautstärke der Fernseher los. Sie muss lachen. Vorurteile sind darum so hartnäckig, weil sie oft etwas Wahres haben und sie immer wieder neue Nahrung erhalten, denkt sie. Trotzdem will auch sie dranbleiben mit dem Siebenundsiebzigmal und so – mit Gottes Hilfe und einer Prise Humor!

      Dann trat Petrus zu Jesus und sagte: Herr, wie oft kann mein Bruder an mir schuldig werden, und ich muss ihm vergeben? Bis zu siebenmal? Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal.

      Matthäus 18,21 und 22

      Die Regionalbahn ist fast leer und hält an jedem Ort. Frau W. ist froh, dass sie heute früh Feierabend machen konnte im Geschäft. Eine Gruppe Jugendlicher fährt mit. Die Schule ist aus und nun wird noch etwas Dampf abgelassen. Am lautesten ist Blerim, der ein Abteil für sich allein besetzt hat und die anderen mit seinen Sprüchen unterhält. Nebenan sitzen Andy und Simon und ihnen gegenüber der etwas kleinere Marco – jedenfalls sind das die Namen, die Frau W. ihnen im Stillen gibt. «Du warst ja voll eine Niete heute im Fussball», stichelt Andy in Blerims Richtung, sofort bereitwillig unterstützt von Simon.

      «Halt’ die Fresse», schreit Blerim überlaut, springt auf, ballt die Fäuste und lässt sich wieder auf seinen Sitz fallen, zappelig und hyperaktiv. Die anderen drei lachen. Dass Marco mitlacht, scheint Blerim zu missfallen. «Du bist ja sowieso nur ein kleiner Streber», ruft er zum anderen Abteil hinüber. Plötzlich dreht der Wind, Marco wird zur bevorzugten Zielscheibe. «Hey, was ist denn das für eine Jacke, die hattest du ja schon letztes Jahr an!», meint Andy verächtlich. Hämisches Gelächter. Marco entgegnet etwas, was Frau W. nicht versteht. Sie ist etwas besorgt – muss sie eingreifen? Zwischen den Sitzbänken hindurch erspäht sie Marco, er lächelt verlegen und drückt sich in die Abteilecke. Der Zugbegleiter verkündet den nächsten Halt. Frau W. steigt aus. Für Marco ist die Reise noch nicht zu Ende. Frau W. tut er leid. Ob er das jeden Tag mitmachen muss, dieses Spielchen, bei dem er am Ende der Prügelknabe ist? Ob er jeden Tag Angst hat vor der Zugfahrt? Und der überdrehte Blerim – packt er sein Leben? Wird Simon ein feiger Mitläufer ohne Rückgrat?

      Ach komm, ruft Frau W. sich etwas beschämt zur Raison. Ihre Fantasie scheint wieder einmal völlig mit ihr durchzugehen. Vielleicht ist ja alles halb so wild und in ein paar Jahren sitzen die Jungs vergnügt bei einem Bier zusammen und lachen über die Zugfahrten von damals.

      Harmlose