Menschenwürde und Bildung. Friedrich Schweitzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Schweitzer
Издательство: Bookwire
Серия: Theologische Studien NF
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783290176549
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wie die Kirche naturgemäß leichter, weil sie wesensmäßig ein Bekenntnis einschließen. Aber was bedeutet beispielsweise das Apostolische Glaubensbekenntnis für Bildung? Und auch wenn für die Evangelische Kirche an die Bekenntnisbedeutung der biblischen Schriften gedacht werden kann, sieht es hier doch nicht viel besser aus. Denn wer etwa dem Hinweis auf Gen 1,27 als Urkunde der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt und die Kommentare zur Bibel zu Rate zieht, erfährt dort kaum etwas über Bildung. Insofern stellt sich auch innerhalb der christlichen Überlieferung für den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ein grundlegendes Vergewisserungsproblem hinsichtlich der eigenen normativen Quellen.

      Fasst man die Realität evangelischer Bildungseinrichtungen in den Blick, so wie dies beispielsweise unlängst mit Hilfe einer empirischen Untersuchung zu dem Verein Christliches Jugenddorf geschehen ist, wird weiterhin deutlich, dass innerhalb solcher Einrichtungen auch faktisch keineswegs Einigkeit hinsichtlich der religiösen und anthropologischen |12| Grundlagen herrscht.4 So zählt das dort tätige Personal nach eigener Aussage das Gleichheitsgebot an vorderster Stelle zu den Prinzipien, an denen man sich im christlich-pädagogischen Handeln orientieren will, während die Ausrichtung an der Gottebenbildlichkeit des Menschen weit abgeschlagen auf einem der letzten Ränge erscheint. Insofern ist auch für die Kirche und ihre pädagogischen Einrichtungen von einem ausgesprochenen Problem der Selbstverständigung zu sprechen. Es muss offenbar allererst genauer geklärt werden, in welchem Sinne man sich hier an Menschenwürde oder Gottebenbildlichkeit orientieren kann oder will.

      Selbst Theologen, die wie etwa Eilert Herms zu Recht darauf hinweisen, dass die christliche Überlieferung zumindest als eine Antwort auf das Motivations- und Spezifizierungsproblem anzusehen ist, nehmen deutlich wahr, dass auch daraus weitere Fragen resultieren.5 Denn nach der Trennung von Staat und Kirche kann das Ziel nicht darin bestehen, die gesamte Gesellschaft von Staats wegen auf ein bestimmtes Menschenbild zu verpflichten. Das Spezifizierungsproblem taucht deshalb nun in der Gestalt des Pluralitätsproblems in veränderter Weise noch einmal auf. Allerdings, so die Hoffnung, kann dieses Problem im Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wirksamer bearbeitet werden als vom Staat, der sich auf ein religiöses und weltanschauliches Neutralitätsgebot verpflichtet sieht. Wo unterschiedliche Verständnisse des Menschen offen zum Ausdruck kommen, da können sie in ein Verhältnis zueinander gesetzt, aber auch kritisch befragt werden. Genau dies soll der anzustrebende Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften leisten.

      Mit diesen sechs auf Menschenwürde und Bildung bezogenen Problemstellungen, die zum Teil Staat und Gesellschaft, zum Teil die Kirche und zum Teil beide gemeinsam betreffen: das Problem von

       Realisierung

       Motivation

       Spezifikation

       Vergewisserung

       Selbstverständigung

       Pluralität

      ist der Horizont umrissen, in dem sich die vorliegende Studie bewegt.

      |13| Noch genauer bestimmt werden müssen allerdings die besondere Zielsetzung und Perspektive dieser Studie und damit auch das Vorgehen. Die genannten Probleme werden herkömmlicherweise vor allem in der Systematischen Theologie und besonders in der (theologischen) Ethik behandelt. Auf deren Sichtweisen und Ergebnisse wird auch im Folgenden immer wieder zurückgegriffen. Die Studie selbst zielt jedoch auf einen Beitrag zum evangelischen Bildungsverständnis, das in seiner thematischen Ausrichtung auf den Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung in der Gegenwart noch erstaunlich wenig Klärung erfahren hat. Als erstaunlich ist dies deshalb zu bezeichnen, weil etwa die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in den letzten Jahren mit großem Nachdruck ein evangelisches Verständnis von Menschenwürde herausgestellt hat und darin geradezu das Zentrum eines evangelischen Beitrags nicht nur zur deutschen Gesellschaft, sondern auch zu einem europäischen Werteverständnis sieht. Bildung soll dabei eine wesentliche Rolle spielen. So wird etwa in der Erklärung des Rates der EKD aus Anlass der Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union (Dezember 2006) auf die aus evangelischer Sicht zentrale Stellung der Menschenwürde hingewiesen6 Sie sei das »Fundament« der »europäischen Grundwerte«. Erläutert wird dies so: »Europäische Politik nach diesen Wertvorstellungen zu gestalten heißt, sie am Maßstab der Menschenwürde und eines ihr entsprechenden Menschenbildes auszurichten. Dazu gehört es, Bildungschancen für alle zu eröffnen und Befähigungsgerechtigkeit insbesondere für die junge Generation zu verwirklichen.« Damit richtet sich die Kirche gegen nach wie vor bestehende Benachteiligungen im Bildungssystem, die überwunden werden sollen. Die Menschenwürde lasse es darüber hinaus auch nicht zu, »dass der Bildungsanspruch jedes Menschen auf den Erwerb von beruflichen Kompetenzen reduziert wird«. Damit ist die theologische Begründung für ein umfassendes Bildungsverständnis angesprochen, das beispielsweise auch konstitutiv die religiöse Bildung einschließen muss.

      Solche Stellungnahmen machen zugleich deutlich, dass das Verständnis von Menschenwürde heute nicht nur plural, sondern auch umstritten ist. Zu den traditionellen Fragen wie der, worin genau denn die Menschenwürde bestehe, treten in der Gegenwart neue kontroverse Herausforderungen. Das gilt nicht nur für den medizinethischen Bereich, |14| wo etwa im Blick auf das sogenannte therapeutische Klonen erheblicher Dissens besteht, bis hinein in die evangelische Kirche und Theologie.7 Auch in anderen Hinsichten werden grundlegende Fragen im Verständnis von Menschenwürde heute sehr kontrovers diskutiert, etwa hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Freiheitsrechten und Leistungsrechten: Folgen aus der Menschenwürde nur Ansprüche und Schutzregelungen für die menschliche Freiheit oder ergeben sich daraus auch Leistungsansprüche, die darauf zielen, dass Menschen zu einem menschenwürdigen Dasein befähigt werden müssen? Und wessen Pflicht ist es gegebenenfalls, dann auch tatsächlich für die Erfüllung solcher Ansprüche zu sorgen? Wie bedeutsam diese Frage gerade im Blick auf Bildung und Bildungsmöglichkeiten ist, wird sich beim Thema der Befähigungsgerechtigkeit zeigen.

      Dabei führt auch der Bildungsbegriff vor kaum weniger weitreichende Fragen grundsätzlicher Art. Lange Zeit wurde dieser Begriff in der Erziehungswissenschaft kaum mehr gebraucht, weil er eine so (fast) nur in der deutschen Sprache und Tradition auftretende Sonderentwicklung darstelle (viele europäische Sprachen kennen nur ein Wort für Erziehung und Bildung: education o. ä.). Kritisiert wurde auch die idealistische Überfrachtung des Bildungsbegriffs. In historischen und theologischen Studien wird hingegen gern auf den christlich beeinflussten Ursprung des Bildungsbegriffs im Mittelalter verwiesen. Theologisch kann daraus auf eine besondere Anschlussfähigkeit des Bildungsbegriffs geschlossen werden – anders als der Erziehungsbegriff sei der der Bildung von Anfang an offen für theologische Deutungen. Neuere erziehungswissenschaftliche Darstellungen streben demgegenüber nach einer weltanschaulich neutralen Fassung des Bildungsverständnisses. In einer pluralistischen Gesellschaft soll sich die Erziehungswissenschaft nicht von religiösen Traditionen abhängig machen.

      Ohne Zweifel ließe sich eine begrenzte Studie, wie sie hier vorgelegt wird, allein mit Klärungen zum Verständnis der beiden Begriffe Bildung und Menschenwürde füllen. Damit geriete sie freilich in die Gefahr, vorliegende Darstellungen zu verdoppeln, während die bislang nur selten aufgenommene Frage nach dem Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsverständnis dahinter zurücktreten würde. Im Folgenden wird deshalb dieser Zusammenhang ins Zentrum gestellt und werden Fragen nach dem Verständnis |15| sowohl von Menschenwürde als auch von Bildung nur aus diesem Zusammenhang heraus aufgenommen. Diese Vorgehensweise bringt es auch mit sich, dass der Studie keine systematische Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung oder gar ein Bildungsverständnis, das sich gegen den Erziehungsbegriff profiliert, zugrunde gelegt werden kann oder soll. Anders als in früheren Zeiten, in denen Bildung weithin mit Schule assoziiert wurde, fließen die Begriffe Erziehung und Bildung im heutigen Gebrauch weithin so ineinander, dass eine klare Unterscheidung jedenfalls nicht vorausgesetzt werden kann. Solche Unterscheidungen müssen vielmehr im jeweiligen Kontext entwickelt und geprüft werden.8

      Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch der Aufbau der nachfolgenden Darstellung beschreiben: Dem genannten Interesse folgend nehme ich den Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung zunächst vom evangelischen Bildungsdenken und seiner Tradition her auf (1). In einem zweiten und dritten Schritt soll