Renate erschien. Sie kam nicht herein; sie trat ein. Sie wirkte größer und schlanker als im Badeanzug. Die blonden Haare hatte sie hochgesteckt, das Kleid ließ die von der Sonne gebräunten Schultern frei, und der Petticoat wurde von einem schmalen Gürtel um die schlanke Taille gehalten, wobei der schwingende Petticoat lange, wohlgeformte Beine mit schmalen Fesseln sehen ließ. Mit suchendem Blick drehte sie sich leicht. Michael und Heinz waren hingerissen. Sie standen auf, winkten und zeigten auf einen Stuhl in ihrer Mitte. Renate ordnete ihre etwas zerzausten Haare, begrüßte die beiden und setzte sich.
In dem sich entwickelnden Gespräch stellte sich heraus, dass Renate nicht nur gut aussah, sondern auch intelligent und humorvoll war. Sie wohnte in einer Kleingartenkolonie in der Nähe des Ernst-August-Kanals. Nachdem in den letzten Kriegstagen, als sie mit ihrer Mutter während eines Bombenalarms im Flakbunker zwischen der Weimarer Straße und dem Rotenhäuser Damm saß, eine Brandbombe das Elternhaus in der Georg-Wilhelm-Straße völlig zerstört hatte, waren sie in das Behelfsheim auf ihrem Gartengrundstück in der Kolonie „Sommerfreude“ gezogen. Als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, hatte er die Gartenlaube mit Hilfe von Freunden zu einem kleinen, aber für drei Personen ausreichenden Haus ausgebaut. Renate erzählte ganz begeistert: „Morgens werden wir durch Vogelgesang geweckt. Und Selbstversorger sind wir auch. Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Tomaten, Gurken, Äpfel, Birnen, Johannisbeeren, Stachelbeeren und Erdbeeren; alles aus eigener Ernte.“
Inzwischen war die von Renate bestellte Portion Eis serviert worden. Michael und Heinz hatten eine zweite Portion geordert.
Ein berufliches Ziel hatte Renate klar vor Augen. Sie arbeitete in einem großen Industrieunternehmen in Harburg als Jungsekretärin. „In drei Jahren will ich Chefsekretärin des Vorstandsvorsitzenden sein“, erklärte sie.
„Nach dem Studium werde ich in die Politik gehen. Ein Jurastudium ist da die beste Voraussetzung. Ich habe doch keine Lust, irgendwelche Strolche anzuklagen oder zu verteidigen. Und als Sesselfurzer in einem Notariat staubtrockene Verträge zu beglaubigen, ist auch nicht mein Ziel“, erzählte Michael. Er war in seinem Redefluss kaum zu bremsen und ließ die anderen nicht zu Wort kommen.
So verging die Zeit, bis Renate auf ihre Armbanduhr blickte und zum Aufbruch drängte. „Für kleine Mädchen wird es Zeit. Ich muss früh wieder raus.“
„Wir bringen dich ...“, kam es wie aus einem Mund von den jungen Männern.
Michael wollte bei Renate Punkte sammeln und übernahm mit großer Geste die Bezahlung der Rechnung. „Ist doch selbstverständlich. Ein Kavalier weiß doch, was sich gehört.“
Gemeinsam gingen sie in der sternklaren Nacht auf dem ehemaligen Treidelpfad am Ernst-August-Kanal, der im Laufe der Jahrzehnte zu einem Spazierweg geworden war, in Richtung Kleingartenkolonie „Sommerfreude“ entlang.
Michael fasste nach Renates Hand. Mit ihrer anderen Hand schlug sie ihm auf den Arm. „Weg da! Entweder fassen beide an oder keiner.“
„Dann beide“, sagte Michael und ergriff erneut ihre Hand.
Renate fasste mit ihrer anderen Hand nach Heinz, und lachend und tanzend kamen sie bis vor das Grundstück mit dem schmucken kleinen Haus und lösten ihre Hände.
Renate legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Psst, meine Eltern schlafen schon.“
Wieder ergriff Michael die Initiative. „Wann sehen wir uns wieder?“
Renate überlegte nicht lange. „Sonntag – ist ja schon übermorgen. Wieder zum Schwimmen an gleicher Stelle. Nachmittags um vier?“
Erfreut sagten die beiden zu und verabschiedeten sich. Sie sahen noch, wie Renate die Gartenpforte aufschloss, hineinging, von innen wieder abschloss und ihnen einen angedeuteten Kuss auf ihrer Handfläche über die Pforte schickte. Dann ging sie beschwingt auf dem mit Buchsbaum umsäumten Weg auf ihr Elternhaus zu.
Auf dem Heimweg – wieder am Ernst-August-Kanal entlang – brach Michael das Schweigen: „Eigentlich gehört sie mir. Meine Idee war es doch, sie anzusprechen. Und ich bin ja auch zu ihr rübergegangen.“
Heinz sah das etwas anders. „Ich finde, dass wir ihr die Entscheidung überlassen sollten.“
„Ja“, kam von Michael mehr ein Knurren als eine Zustimmung.
Schweigend gingen sie dann bis zur Fährstraße. Dort verabschiedete sich Michael und ging die kurze Strecke zur Wohnung seiner Eltern in der Veringstraße.
Am Sonntag, gleich nach dem Mittagessen, klingelte es in der Wohnung der Bendowskis. Irene sah ihren Sohn an. Heinz hatte seiner Mutter von der Verabredung mit Michael und Renate erzählt.
„Michael kommt aber früh“, meinte sie. „Der kann es wohl gar nicht mehr erwarten.“
„Ich auch nicht“, gab Heinz zu.
Seine Mutter lachte. „Da hat es euch aber richtig erwischt.“
Heinz drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, verließ die Wohnung und lief die Treppe zu dem wartenden Michael hinunter.
Am Himmel standen keine Wolken, und die Sonne schickte ihre Strahlen auch in die kleine Badebucht an der Süderelbe, als Michael und Heinz dort eintrafen. Sie waren überpünktlich, von Renate war in der Menge der an der Elbe Erfrischung suchenden Menschen noch nichts zu sehen. Die Freunde fanden einen etwas abgelegenen Platz, an dem sie sich bis auf ihre Badehosen auszogen, sich auf den Bauch legten und auf die Deichkrone hinauf sahen, um die Ankunft von Renate nicht zu verpassen.
Sie waren gerade in ein Gespräch über ihre beruflichen Zukunftspläne vertieft, als eine Fahrradklingel sie aus ihren Karriereträumen riss. Lachend schob Renate, die den Deich an anderer Stelle überquert hatte, ihr Fahrrad durch den Elbsand zum Liegeplatz der Freunde. Beide sprangen auf und nahmen ihr das Fahrrad ab. Auf dem Gepäckhalter klemmte eine große Tasche. Gemeinsam stellten sie das Rad in den Schatten einer Schwarzerle. Erst dann begrüßten sie Renate.
Die war etwas außer Atem. „Ganz schön schwer, ein Fahrrad mit Badesachen und Proviant durch den Sand zu schieben.“
Sie nahm ihre Tasche vom Gepäckhalter und begann sie auszupacken. Eine Wolldecke kam zum Vorschein, die sie in der Sonne ausbreitete. Dann eine Thermoskanne.
„Kaffee“, sagte Renate. „Und Kuchen gibt es auch. Butterkuchen. Habe ich heute Vormittag gebacken.“
Es schienen mehrere große Stücke zu sein, die in dem Pergamentpapier eingewickelt waren. An Becher hatte sie auch gedacht, die in einem Geschirrtuch eingewickelt waren.
Michael wollte zum Kuchen greifen.
Renate schlug ihm leicht auf die Hand. „Erst geht’s ins Wasser. Ich brauche eine Erfrischung.“
Einen Badeanzug hatte sie schon untergezogen, so dass sie, nachdem sie ihr leichtes Sommerkleid ausgezogen hatte, sofort zum Wasser laufen konnte. Die beiden Freunde, die mit ihren Blicken noch an dem Kuchenpaket gehangen hatten, stürmten hinterher, und gemeinsam warfen die drei sich in die kühlenden Fluten der Elbe.
Später, als sie in der wärmenden Sonne lagen, Kaffee getrunken und mehrere Stücke Kuchen gegessen hatten, erzählten Michael und Heinz von ihrem Hobby, dem Fußballspielen und ihren Erlebnissen mit den Mannschaftskameraden. Renate gefiel eine Geschichte dabei besonders gut. Die Fußballfreunde hatten sich einen besonders derben Spaß mit Manni Nierlinger, dem etwas naiven und leichtgläubigen Mittelläufer ihrer Mannschaft gemacht. Sie hatten Manni erzählt, dass für den Bau von Landebahnen auf der amerikanischen Militärbasis auf Grönland Arbeitskräfte gesucht würden. Bei einer Verpflichtung für zwei Jahre, bei täglich acht Stunden Arbeit auf der Airbase, würde ein Stundenlohn von zwanzig Dollar gezahlt. Und das bei Übernahme der Fahrtkosten, Unterkunft und voller Verpflegung. Nach zwei Jahren würde man also als gemachter Mann heimfahren können. Voraussetzung wäre allerdings, dass der Bewerber auf dem amerikanischen Konsulat den Kältetest in der Kältekammer bestehen müsse. Manni hatte die Geschichte geglaubt und war Feuer und Flamme.
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