In den Landesvertretungen, Botschaften, Interessenverbänden oder Kulturvereinigungen Bonns trafen sich pünktlich Menschen aus den benachbarten Städten wie Koblenz oder auch Köln, auch welche aus diesen Nestern, die nach dem Kriege angeschwollen waren aufgrund der Nährzelle Bonn. Es war ganz einfach: Der Name musste auf einer Liste stehen. Dafür hatte man Freunde. In Bonn war alles sehr familiär, einer fragte den anderen: »Gibt’s ein Bufett?« Es gab! Fressen, Saufen aus vielerlei Anlass. Heute aus diesem, morgen aus jenem Topf. Vor dem Abmarsch immer irgendwelche tiefsinnig dröhnenden Lacher. Und dann noch die Blumen kassiert: »Die sind doch morgen sowieso verwelkt.« An den Garderoben letztes Geflüster: »Haben sie denn das Eis? Da ist noch welches, im hinteren Zimmer –«
Martha legt Geld auf den Tisch und steht auf. Die Bedienungen haben ihren Mantel von oben nach unten geholt. Es hört sich so an, als ob sie sich zankten, wer den Mantel denn halten darf. Noch ein paar Zloty. Und noch einmal, hinter Martha her, das vollmundige Lachen.
Die beiden Halbuniformierten mit ihren Schirmmützen auf den Köpfen öffnen die halbhohe Klapptür zum oberen Gastzimmer: »Bittesehr, Bittesehr«. Ihre Kontrollblicke sind auf Marthas Hände gerichtet. Holt sie was aus den Taschen? Nimmt sie ihr Portemonnaie?
Draußen fällt sie dem Taxifahrer direkt auf den Sitz. »Wielkopolska«. Genau genommen nennt sie den Namen eines riesigen Distrikts im Herzen von Polen. Aber der Taxifahrer hat schon verstanden, er bringt sie in dieses Hotel.
Endlich die Briefe von Krzysztof Jaworski auf ihren Knien: Es sind keine Liebesbriefe, in denen die Liebe die gewöhnliche Sprache aufgefrischt hätte. Sie hat sie nur liebend gern in Empfang genommen, mit in den Koffer gepackt, um sich daran festzuhalten und liest jetzt, auf der Bettkante sitzend:
Der Herbst scheint mir die beste Zeit für eine Polenreise: Das Wetter ist meistens schön, die Tage sind nicht allzu kurz. Eine äußere Kenntnis des Landes ist nicht zu verachten. Zur Kenntnis des menschlichen Denkens wird das freilich wenig beitragen. Auf jeden Fall, wenn Sie in Warschau sind, rufen Sie, bitte, an. Vielleicht bin ich doch da.
Er hat stets bezweifelt, dass ihre Brudersuche Erfolg haben könnte. Als größtes Hindernis sah er die Sprache:
Zur Auskunft genügt eine brüchige Kenntnis. Zu Geständnissen wird es damit nicht kommen. Auch dolmetschen hilft da kaum. Man braucht Vertrauen – und auch die Möglichkeit der prompten Widerrede!
Das liest Martha zum werweißwievielten Mal. Wieder sieht sie den Professor und den Spanier (der eigentlich Ungar war) und sich selbst vor den frisch gekochten Marillenknödeln sitzen. Es riecht nach zerschmolzener Butter. Sie lachen. Krzysztof Jaworski erzählt, dass, von den Kreuzrittern abgesehen, die deutschpolnische Grenze, die kein Gebirge und kein großer Fluss je abgesteckt hat, sechshundert Jahre lang die einzig friedliche Grenze Europas war. In dieser Zeit überquerte sie ein einziges Heer. Es war ein schwedisches. Und dann hatte er viele Namen im Kopf, immer einen zum anderen: Matthäus von Krakau, der Rektor der Heidelberger Universität wurde und Veit Stoß, der sein größtes Kunstwerk in Krakau schuf. Einen Herrn Linde, der das erste Wörterbuch der polnischen Sprache verfasste und einen Herrn Borowski, der die erste Kantbiographie schrieb.
Martha sitzt auf der Bettkante und wartet darauf, dass etwas Erlösendes geschieht. So wie am Abend zuvor, als im polnischen Fernsehprogramm dieser ruhig mit sich selbst redende Mann seinen Koffer öffnete und der Schmetterling hervorkroch.
Sie packt. Dieser Henryk wird kurz nach acht Uhr an der Rezeption stehn. Einen guten Tag hat er ihr gewünscht und »Hoffentlich schlafen Sie gut!«
Im Zimmer 114 gibt es ein Fenster zum Hof hinaus, direkt hinter dem Kopfteil des Bettes. Man könnte hier aus dem Fenster springen und dann auf einem Teerpappdach, immer in Höhe der ersten Etage, am Haus entlanglaufen. Martha prüft, ob die Riegel des Doppelfensters gut schließen. Und erfreut sich an der luxuriös großen Badewanne. Wie tief und breit! Gerade so auch ein riesiges, weißes Badetuch.
Es dauert, bis sie den Weißzeugknäuel als Pfropfen für den Wannenabfluss anerkennt. Die Wasserhähne sind kaum zu bewegen, pochend, schlagend, rollt das Wasser an. Niemand beschwert sich? Ist außer ihr wer im Haus?
Endlich gelingt ihr die richtige Mischung aus heiß und kalt, – Licht aus, und warten. Noch einmal steckt sie den Kopf ins Dunkel: Nirgendwo erleuchtete Fenster, nur die nasskalte Luft. Es könnte Schnee geben.
Sie zieht sich Schuhe und Strümpfe aus. Je länger sie in den Hof schaut, um so mehr Dinge lösen sich aus der Nacht: Türen, Fenster, Mauervorsprünge, Mülltonnen, ein Stapel Stangen. Nach einer Seite hin ist der Hof offen, da steht eine Gruppe entlaubter Bäume. Jedoch bewegt sich nichts, nicht einmal ein Hund unterwegs.
Meist kam ein Hund vorweg. Die Bettelleute öffneten das tagsüber nur zugeklinkte Törchen und gaben dem Hund einen Klaps, dass er zur Hausecke trollte und in den Hof sah. Die Höfe der Reichsbahnwohnblocks waren voller Kinder. Daran waren der Hund und die Bettelsänger gewöhnt. Der Mann mit der singenden Säge, der mit der Mundharmonika und manchmal auch ein Geiger. Immer die Sängerin, und als etwas Besonderes das kranke Kind im Rollstuhl, so folgten sie dem Hund in den Hof. Die Reichsbahnerkinder und – Enkelkinder warteten entlang der Hauswand. Alles erste Plätze:
Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau?
Weinst du um der Veilchen Dunkelblau,
oder um die Rose, die du brichst?
Oh nein, oh nein, um diese wein ich nicht …
Beim Anblick der Bettelleute war Martha und wohl den meisten Kindern so wehe zumute. Die Welt war so wunderschön traurig. Johannes dann dichtgedrängt neben der Schwester. Der Pfennig-Regen fiel von den Balkonen, in Papier geknüllte Kupfermünzen, sanft geworfene Geschosse. Finger weg, Kinder! Der Hund! Der Hund!
Ferien bei den Großeltern: Die hatten die bitterarme Oberlausitz verlassen, der Großvater war Waggonaufschreiber bei der Reichsbahn. Zu Hause rannten Johannes und Martha in die Wiesen und in den Wald. Der begrenzte Hof bei den Großeltern war wie ein Zimmer. Die Jungen spielten da »Land nehmen«. Mit dem Taschenmesser ein großes Rechteck in die sandige Erde geritzt, dann ein Kreuz, – da musste der Werfer stehen. Wenn das Messer in der Erde steckt, darf sich der Werfer geradlinig zum Rand ein Stück Land abteilen: »Ich!« »Nein ich!«
Und dann wurde geraubt: Man wirft ins benachbarte Land, darf sich ›wegschneiden‹, was mit gerade gezogener Linie dem eigenen Land anzuhängen ist. Die Mädchen spielen mit Bällen. Ballprobe: zwölf Mal mit beiden Händen den Ball an die Wand getitscht, dann linke Hand, rechte Hand, Kopf, mit dem rechten Arm den Ball hinter dem Rücken her an die Wand geworfen, mit dem linken, dann Drehen, Hüpfen, in die Hände Klatschen, – bis der Ball fällt. Das nächste Mädchen. Bumm, bumm, bumm. Bunte Bälle, grauer Mörtel. »Geht nicht auf den Bleichrasen!« Da stolzieren die Stare, picken Käfer auf und Würmer. »Du hast dein Taschentuch verloren, Martha. Da liegt es, im Dreck!« »Wer hat denn dem Johannes das große Messer …« Die Köpfe der Mütter und Großmütter zwischen den Petunien. Alle Balkone voller Petunien, Geranien, Fuchsien. Schwalben in der Luft.
Martha schaut aus dem Badezimmerfenster des Zimmers 114 im Hotel Wielkopolska auf die graue, fensterlose Mauer gegenüber. Hinter ihrem Rücken quält sich weiter Wasser durch die Rohre und füllt langsam die Wanne. Irgendetwas riecht scharf, nicht vom Hof her. Außer der frischen Luft hat sich nichts da bewegt, auch wenn jetzt neben und über Marthas Ausguck Licht aufleuchtet.
Heute Morgen sah sie zwei Kinder über den Hof gehn. Sie spielten nicht, verschwanden Hand in Hand und schnell hinter den Bäumen. »Morgen woll’n wir heiraten, juhuhuuu …« Auch das war so ein Kinderlied, bei dem man sich anfasste und dabei der gegenüberliegenden Reihe von Kindern singend näher kam.
Zu Hause, im Hof auf dem Dorfe, packte man auch den Hahn.