FRÜHLING
APRIL 1137
„Olaf Raukson wünscht Euch zu sprechen, mein Admiral …!“, rief Ralf de Saddeleye aufgeregt an diesem zweiten Apriltag, als er die Halle betrat. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass dieses Treffen keinen Aufschub duldete. Es war noch früh am Morgen und ein eisiger Nebel drang durch das Hallentor, als sich die drei Gestalten der Nordmänner hinter den Briten mir näherten. Ich saß noch halb schlaftrunken an meinen Schreibplatz zusammen mit Eduardo Cortez, da wir die ganze Nacht Schriften und Dokumente durchgearbeitet hatten, die im Jahr zuvor durch die Katharer Jacques und Gilles in meine Hände geraten waren.
„Was gibt es so Wichtiges, Bruder Ralf, dass Ihr sichtlich außer Atem mir die Aufwartung macht? Und noch dazu mit dem Dorfältesten und seiner Belegschaft?“
Als ich dies sagte, verbeugte ich mich respektvoll und freundlich vor ihnen.
Olaf Raukson, sein Sohn Rauk Olafson, der Schmied Sven Svenson und die rechte Hand des Oberhauptes namens Eryk Kyrreson verbeugten sich ebenso, und Ralf nahm nun das Wort, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich etwas beruhigt hatte.
„Die Flüsse sind wieder befahrbar und die Magdalena kann heute zu Wasser gelassen werden. Alle Arbeiten an Rumpf und Masten sowie Erneuerungen der Takelage sind durchgeführt. Ich habe mich selbst mit Rauk und Sven davon überzeugt, mein Admiral!“
„Und wie, wenn ich fragen darf?“, fragte ich gelangweilt, da diese Kälte einem jeden Schwung und Lebensfreude nahm. Die Knochen taten mir weh und die wuchtige Pelzbekleidung lag schwer auf der Schulter, sodass jegliche Bewegungsfreiheit dadurch drastisch eingeschränkt wurde.
„Wir sind von einem dreitägigen Erkundungsritt zurückgekehrt und ich konnte es mit eigenen Augen sehen. Das Eis ist dünn und kann leicht durch den Kiel zur Seite geschoben werden. Ja sogar die schlanken Fischerboote der Nordmänner fahren wieder hinaus. Wenige sind schon in See gestochen und manche mit reichlich Fisch zurückgekehrt!“
„Du hast dich, ohne meinen Befehl oder meiner Erlaubnis einzuholen, zu einem dreitägigen Erkundungsritt begeben? Dafür sollte ich dich auspeitschen lassen, de Saddeleye …“ Ich versuchte, meinen Zorn im Zaum zu halten, und atmete tief durch, bevor ich etwas sagte, das ich hätte später bereuen müssen.
„Nun gut. Da es gute Nachrichten sind, die du mir da bringst, werde ich davon absehen, aber in Zukunft werde ich keine Milde zeigen. Verstanden?“
„Ja, mein Admiral. Verzeiht!“
„Und was kann ich für Euch Herren tun?“ Ich schaute dabei Olaf in die Augen, und der antwortete in seiner Sprache.
„Der Dorfälteste will, dass wir seinen Sohn Rauk auf unsere nächste Fahrt mitnehmen. Er kennt die See auf dieser Seite der Welt wie kein anderer. Auch kann er uns sprachlich dienen, sollten wir auf Vynland Fuß setzen“, beendete Ralf seine Übersetzung hastig.
„Ich habe keine Einwände, jedoch wird er das auf eigene Gefahr tun müssen. Und falls ihm etwas auf dieser Fahrt zustoßen sollte, so darf man mir die Verantwortung nicht zuschieben. Gerne würde ich solch eine Hilfe an Bord wissen. Sag ihm das.“
Nachdem Ralf Olaf Raukson dies alles vermittelt hatte, nickte er zustimmend mit dem Kopf und reichte mir die Hand. Wir drückten uns fest die Hände fest und lächelten uns zu.
„Sag ihm, Bruder, dass ich die Ausfahrt in vierzehn Tagen plane. Heute haben wir den Zweiten, somit ist der Sechzehnte der Stichtag. Sorge dafür, dass Gernot und François alles Nötige vorbereiten und auflisten, was an Proviant, Gerät, Vieh und Sonstigem auf diese Reise mitgenommen wird.“
„Zu Befehl, Admiral!“
„Und noch was. Die Männer sollen wieder verstärkt an den Übungen durchgenommen werden. Sie haben genug Fett angesetzt. Wird Zeit, dass wir alle wieder etwas abspecken!“
„Zu Befehl, Admiral!“
Ralf begleitete die Belegschaft nach draußen. Sobald das Tor geöffnet wurde, durchdrang diese eisige Kälte den Raum der Halle und ich hatte alle Zweifel dieser Welt, dass es eine gute Idee sei, jetzt hastig in See zu stechen, nur weil das Eis auf dem Wasser schmolz.
„Wir lassen uns noch etwas Zeit, nicht wahr, Cortez?“
„Das wäre angebracht, Admiral. Das Wetter kann genauso wieder umschlagen im April.“
Ja, ich hatte mich wieder mit Cortez für eine befristete Zeit verbunden. Ich ließ ihn gewähren, damit er sich meine Gunst wieder erhoffen durfte nach all dem, was in der Vergangenheit geschehen war. Die Geschichte, die er mir im letzten Januar erzählt hatte, und sein Vorschlag, ihn wieder an meiner Seite fungieren zu lassen, gaben mir sehr zu denken und ich sagte zu. Sollte seine Geschichte stimmen, so war ich jahrelang nur von Verrätern und Spionen umgeben und ich fragte mich täglich, warum der Allmächtige mich solch einer Prüfung unterzog, und das seit meiner frühesten Kindheit.
Alle hatten mich getäuscht, Hugues de Payns, Farid, Otto von Salheim, Ali und der Alte vom Berg. Aber warum?
Warum wurde ich für solche Intrigen und Niederträchtigkeiten ausgesucht? Wer war in meiner näheren Umgebung noch solch ein Verräter? Gondamer? Das würde mir das Herz so sehr brechen, dass ich daran zugrunde gehen würde. Doch das wollte ich nicht glauben, und so verdrängte ich diesen Gedanken schnell aus meinem Kopf. Wem konnte ich hier noch vertrauen? Ich musste mehr von Cortez erfahren, und so entschied ich, mich mit ihm wieder einzulassen. Wir studierten täglich Dokumente, Rollen und Schriften, die aus dem Heiligen Land stammten. Jede Rolle sowie jedes Dokument brachte neues Licht in die Geschichte der damaligen Zeit und somit zu Jesus aus Nazareth. Nichts konnte widersprüchlicher zur Bibel erscheinen als diese hier aufgezeichneten Chroniken, die zu einer Zeit geschrieben worden waren, als Jesus noch lebte und wirkte. Was man aber von der Bibel so nicht sagen konnte, denn diese wurde von Bischöfen und anderen Individuen erst 340 Jahre später niedergeschrieben und mehrfach nach Gutdünken manipuliert und umstrukturiert. Natürlich waren die Schriften auch mit Vorsicht zu genießen, denn vieles wurde von Chronist zu Chronist anders interpretiert.
An einer Stelle wurde es so heikel, dass ich tagelang nicht einschlafen konnte. So beschrieb ein Chronist mit Namen Yeremias aus Naxos, der anscheinend in den letzten Tagen des jungen Zimmermannes in Jerusalem anwesend war, die Sachlage so:
„Es war ein heißer und trockener Tag, als die Menge laute Beschimpfungen von sich brüllte, manche auch Proteste der Empörung über das gefällte Urteil, und ein mit Blut verschmierter und fast totgeschlagener Mann die enge Straße hochlief und mit Peitschenhieben eines Römers immerzu vorwärtsgetrieben wurde. Ein anderer trug das Kreuz für den Geschlagenen. Ich kannte den Zimmermann namens Yeshua gut. Oft habe ich seinen Reden zugehört, und oft hinterließen seine Lehren in mir tiefe Schuldgefühle, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war, die schwerwiegend genug gewesen wäre, um mich als unwürdig zu bezeichnen. Und doch wurden mir dadurch, dass ich mir meinen Lebensunterhalt als Händler verdiente, insofern die Augen geöffnet, als das von ihm Gesagte so zu verstehen sei, dass Gier und Habsucht einen ebenso von dem Weg entfernen würden, der einen Menschen ausmacht: die Fähigkeit, seine Mitmenschen zu lieben und zu achten. Wie oft hatte ich einem Bettler den Rücken zugekehrt, obwohl ich täglich genug zu essen und zu trinken hatte und ich mir eine gute und warme Unterbringung leisten konnte.
Doch genug davon. Mir fiel auf, daß mir dieser Mensch, der bald auf dem Kreuz seinen letzten Atem aushauchen würde, vollkommen fremd vorkam, obwohl ich doch den Zimmermann Yeshua kannte. Ja, sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geschlagen worden, doch irgendetwas passte nicht. Im ersten Augenblick sah er wie Yeshua aus, doch mein Bauchgefühl sagte etwas anderes. Er drehte sich ständig um, als ob er jemanden in der Menge suchte. Eine Frau eilte zu ihm mit einem nassen Tuch, um sein Gesicht zu waschen, und trotz der Drohungen des Römers ließ