LUDWIG HIRSCHFELD (1882–1945)
Geb. am 21. Mai 1882 in Wien, gestorben zwischen 7. November 1942 und 4. Mai 1945 im KZ Auschwitz. Hirschfeld arbeitete als Redakteur der Neuen Freien Presse und als Chefredakteur für die Moderne Welt. 1927 erschien sein alternativer Reiseführer Wien und Budapest, 1929 auch in englischer Übersetzung. Er verfasste darüber hinaus eine Vielzahl von Novellen, Schauspielen und Libretti und war als Übersetzer und Feuilletonist tätig. Hirschfeld wird bei Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit in der Szene vor dem Hotel Imperial erwähnt. Freund Felix Salten resümierte, dass er sich «fast immer als Schriftsteller von ausgesprochen journalistischem Temperament» zeigte.
Am 6. November 1942 wurden Ludwig Hirschfeld und seine Ehefrau Ella Grimm und ihre beiden Kinder Eva und Herbert nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Wien
VON LUDWIG HIRSCHFELD
Mit Originalzeichnungen
von Adalbert Sipos und
Leopold Gedö
und einem Nachwort von
Martin Amanshauser
MEINER GELIEBTEN GATTIN,
FRAU ELLY HIRSCHFELD,
DIE FÜR DIESES BUCH AUFOPFERNDE EINKÄUFE
GEMACHT UND GETANZT HAT.
INHALT
Iss gut und bleib schlank – wenn du kannst
Eigentümlichkeiten, an die man sich gewöhnen muss
Kleinstadtkorso in der Großstadt
Vom Burgtheater zur Nacktrevue
Von den Philharmonikern zum Heurigen
Die große Hetz für die kleinen Leute
Sie woll’n das Fräul’n Helen’ baden seh’n?
Nachwort von Martin Amanshauser
DAS BUCH VON WIEN
Epilog am Anfang
Nichts ist schwerer als ein intimes Buch über eine Stadt zu schreiben, die man ganz intim kennt, weil man hier geboren und aufgewachsen ist. Von selbst hätte ich dieses Buch über Wien bestimmt nie geschrieben. Aber da erschien im vergangenen Herbst der Dr. Freund vom Piper-Verlag in Wien und überfiel mich ahnungslosen Skizzenschreiber mit der Frage: »Wollen Sie ein Buch über Wien schreiben?« Dazu kam noch, dass er mir einen Vorschuss an die Brust setzte und dass meine Frau dringend einen Pelzmantel benötigte, um jene Blößen zu decken, die zu den wichtigsten Bestandteilen eines modernen Abendkleids gehören. Aus allen diesen Gründen lief ich nicht gleich davon, sondern hörte dem Dr. Freund zu, als er mir seine reizende Idee entwickelte: eine Serie von Büchern über die Hauptstädte Europas. Leitmotiv: Was nicht im Baedeker steht.
Und ich sollte das Buch über Wien schreiben, was doch für mich, den konzessionierten und langjährigen Beobachter und Schilderer der Wiener Dinge und Menschen ein Leichtes sein müsse, direkt eine Spielerei und ein Vergnügen …
Na ja … aber es ließ sich nicht viel dagegen einwenden und ich sagte zu, das Buch in zwei, drei Monaten zu schreiben: 16 Bogen oder 256 Druckseiten. Diese Ziffern legten sich mir schwer aufs Gemüt. Um Gottes willen, wie soll ich 256 Seiten lang fortwährend über Wien … Aber dann tröstete ich mich rasch: Wozu schreibst du seit 20 Jahren über Wien? Nichts Wienerisches ist dir fremd, über alles hast du schon irgendwie und irgendwann geschrieben, namentlich am Sonntag in der Neuen Freien Presse. Und da du zwar Berufsschriftsteller, aber ein sehr ordentlicher Mensch bist, hast du doch alle diese Sachen aufgehoben und schön nach Jahren geordnet. Nun wirst du sie also wieder hervorholen, durchlesen, zusammenstellen, ein bisschen was dazu, ein bisschen weg und das Buch über Wien ist fertig …
So gründlich bin ich schon lang nicht aufgesessen. Als ich in meinen alten Sachen blätterte, da merkte ich, dass dieses Wien der letzten 20 Jahre zum größten Teil gar nicht mehr da ist, dass mir die meisten Objekte meiner Beobachtung, Schilderung und Ironie abhandengekommen sind: demoliert, veraltet, entwertet, abgebaut, verschwunden. Der große Trennungsstrich zwischen den zwei Zeitaltern: vor dem Krieg und nach dem Krieg, der durch die ganze Welt geht, den hat die Zeit, das Schicksal nirgends so kräftig gezogen wie durch das Wiener Leben. Der ärgste Sieg hätte uns nicht so heftig verändern können wie unsere überwältigende Niederlage, wie diese Liquidation der alten GmbH Österreich-Ungarn. Das Unternehmen hat sich aufgelöst, aber das Wiener Zentralbureau funktioniert im Leerbetrieb weiter.
Nein, mit den alten Skizzen ist nichts anzufangen. Dieses Buch muss ganz neu geschrieben, diese Stadt ganz neu gesehen werden. Den Teufel auch, das ist keine leichte Aufgabe: alle die Dinge frisch sehen, die man durch täglichen Anblick gar nicht mehr bemerkt; das Gewohnte und Selbstverständliche charakteristisch schildern, alles erklären, nichts Wichtiges vergessen. Noch nie habe ich bei einer Arbeit so viel geächzt und geflucht: über Wien, über den Verlag, über den Pelzmantel meiner Frau. Hoffentlich merkt man’s dem Buch nicht zu sehr an …
Und schließlich fing die Sache an, mir stellenweise Spaß zu machen. Es ist ja etwas komisch, wenn man sich einer Stadt, in der man seit soundsovielvierzig Jahren zu Hause ist, plötzlich aufmerksam und interessiert nähern soll. So als ob man nach zehn Ehejahren wieder in seine Frau frisch verliebt ist und ihr den Hof macht. Ist auch nicht das Ärgste. Es kann sogar sehr nett sein. Während ich alle