Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman. Nina Kayser-Darius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nina Kayser-Darius
Издательство: Bookwire
Серия: Notarzt Dr. Winter
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740976835
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      Sie würde diesen Paul Lüttringhaus am nächsten Tag noch einmal aufsuchen, beschloß sie. Auch wenn sie nur wenig tun konnte, so empfand sie es doch als ihre Pflicht, ihm zu erklären, wie es zu dem Unglück gekommen war. Der Gedanke, daß er wegen des Unfalls einen tiefen Groll gegen Pablo hegte, war ihr unerträglich. Wenn er dem Jungen schon nicht verzeihen konnte, so wollte sie wenigstens versuchen, ihm dessen Handlungsweise verständlich zu machen. Als Lehrer mußte er doch eigentlich nachvollziehen können, was in Pablo vorgegangen war! Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, entspannten sich ihre Züge, und nun nahm sie auch wahr, wie ängstlich die beiden Jungen sie beobachteten. »Guckt nicht so«, sagte sie betont munter. »Ich hatte eben ein ziemlich gräßliches Erlebnis, deshalb habe ich so ein Gesicht gemacht. Es hat überhaupt nichts mit euch zu tun.«

      Die Erleichterung der Jungen war so groß, daß sie fast körperlich zu spüren war, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit für beide erfaßte sie. Pablo hatte eine Dummheit gemacht, aber sie würde nicht zulassen, daß er dafür noch einmal bestraft wurde!

      Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Als sie sich aufrichten wollte, schlang er beide Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ich hab’ dich lieb, Lisa«, sagte er. »So lieb wie meine Mama, die schon im Himmel ist.«

      »Ich hab’ dich auch lieb, Pablo«, flüsterte sie. »Und Alexander auch. Wir sind sehr froh, daß du hier bist.«

      »Genau!« sagte Alexander laut. Die Stimmung wurde ihm allmählich zu rührselig, und das war seine Art, das zum Ausdruck zu bringen.

      »Bis morgen, Pablo«, sagte Lisa. »Schlaf schön. Und mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon – irgendwie.«

      Auf einmal war Pablo sehr müde. Die Aufregung des Tages forderte ihren Tribut, und er schlief ein, noch bevor Lisa und Alexander das Zimmer verlassen hatten.

      *

      Nach diesem denkwürdigen ersten Urlaubstag lag Dr. Adrian Winter abends auf seinem breiten Sofa und dachte über die merkwürdigen Wege des Schicksals nach. So viel war an diesem Tag passiert! Mehr als manchmal in einer Woche oder sogar in einem ganzen Monat.

      Stefanie Wagner fiel ihm wieder ein, und er fragte sich, ob er sie nicht am besten aus seinem Gedächtnis streichen sollte. Er wußte ja nun, daß sie gebunden war. Oder sollte er doch noch einmal bei ihr vorbeigehen und sich ganz unverbindlich nach ihrem Befinden erkundigen?

      Aber er hatte keinen Grund, wirklich nicht den geringsten, am nächsten Tag schon wieder in die Klinik zu gehen. Plötzlich lächelte er. Es würde ihm schon ein Grund einfallen. Phantasie hatte er schon als Kind reichlich gehabt. Sollten die anderen sich ruhig über ihn lustig machen, weil er in seinem Urlaub ständig am Arbeitsplatz auftauchte – das konnte ihm gleichgültig sein. Er wollte nur noch einmal in die schönen Augen von Frau Wagner sehen…

      Das Telefon riß ihn aus seinen Gedanken. »Na?« fragte die vertraute Stimme seiner Zwillingsschwester. »Wie war dein erster Urlaubstag? Ist es nicht wunderbar im Pergamon-Museum?«

      »Ich war gar nicht da, Esther«, gestand er. Esther hatte Medizin studiert, wie er, aber sie war Kinderärztin geworden – für sie der Idealberuf schlechthin.

      »Du warst nicht da?« rief sie nun. »Aber wieso denn nicht?«

      »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er mit einem unterdrückten Seufzer.

      »Erzähl sie mir trotzdem«, forderte sie.

      Das tat er. Er bemühte sich, sich kurz zu fassen, aber bis er zum Ende gekommen war, verging doch fast eine Viertelstunde.

      »Das gibt’s doch alles gar nicht«, meinte Esther schließlich. »Du hast aber auch wirklich ein seltenes Talent, in solche Situationen zu geraten, großer Bruder.«

      Er lächelte über diese Anrede. Esther war fünf Minuten vor ihm auf die Welt gekommen, aber sie reichte ihm knapp bis zur Schulter und würde deshalb immer seine »kleine Schwester« bleiben.

      »Sag mal, und was ist das für eine Frau?« erkundigte sich Esther.

      »Die Gastmutter von dem kleinen Argentinier?« fragte Adrian. »Oh, sie ist eine sehr nette und…«

      »Doch nicht die!« rief Esther ungeduldig. »Stell dich nicht dumm, du hast mich ganz genau verstanden. Die mit dem Schock, meine ich.«

      »Was soll mit ihr sein?« fragte Adrian vorsichtig. Er war sich nicht bewußt, irgendwie angedeutet zu haben, daß ihm Stefanie Wagners Veilchenaugen nicht aus dem Kopf gingen.

      Esther schnaubte leise. Männer waren manchmal wie Kinder. Als ob sie nicht sofort den veränderten Klang seiner Stimme bemerkt hätte, als von ihr die Rede gewesen war. »Wie sieht sie aus?« fragte sie sachlich.

      »Sie hat wunderschöne veilchenfarbene Augen«, antwortete Adrian prompt. »Sie ist überhaupt sehr schön, Esther.« Er begriff plötzlich, daß er dabei war, sich zu verraten und zwang sich zu einem neutralen Ton. »Aber das steht ja hier nicht zur Debatte«, fuhr er fort. »Sie hatte einen schweren Schock, aber es geht ihr schon wieder besser, und sie wird morgen oder übermorgen entlassen.«

      Esther fragte nicht weiter, sie hatte genug gehört. Die junge Frau hatte offenbar großen Eindruck auf ihn gemacht, aber er wollte nicht darüber sprechen. Wahrscheinlich war sie gebunden, und die Sache war ohnehin aussichtslos. Schade, Adrian war schon so lange allein!

      Sie machte sich oft Sorgen um ihn, weil er so völlig in seinem Beruf aufging, daß für nichts anderes mehr Platz war. Aber sie war eindeutig die falsche Person, um ihm deshalb Vorhaltungen zu machen, schließlich ging es ihr ähnlich. Sie hatte eine kurze Ehe hinter sich, an die sie nicht gern zurückdachte. Und seitdem lebte sie allein, nur gebunden an ihren Beruf, den sie über alles liebte. Wir sind uns eben sehr ähnlich, dachte sie.

      »Dann gehst du also morgen ins Museum«, stellte sie zum Abschluß des Gesprächs fest.

      »Ganz bestimmt«, antwortete er und fragte sich erstaunt, warum er sich dabei wie ein Lügner fühlte. Schließlich konnte er ja auch ins Museum gehen!

      *

      Am nächsten Tag war Pauls Laune auf dem Tiefpunkt angelangt, aber niemand merkte etwas davon, denn er behielt es für sich. Auf der Station traute man dem Frieden nicht so recht, aber nach einer Weile glaubte selbst die mißtrauische Schwester Inge, daß der Patient Lüttringhaus an seinem ersten Tag wohl noch unter Schockeinwirkung gestanden haben mußte und sich nur deshalb wie ein Wilder aufgeführt hatte.

      Paul hatte ein langes Gespräch mit einem Orthopäden geführt, und das Ergebnis war so, wie er es erwartet hatte: alles war möglich. Er konnte wieder völlig gesund werden, das Bein konnte aber auch einen bleibenden Schaden behalten. Das hing von vielen Faktoren ab – unter anderem von der Mitarbeit des Patienten. Nun, daran sollte es nicht scheitern. Er hatte beschlossen, sich durch die unsichere Zukunft nicht deprimieren zu lassen. Seiner Wut hatte er bereits gestern Ausdruck verliehen – mehr als genug, wenn er ehrlich war –, nun war es an der Zeit, wieder vernünftig zu werden.

      Er hatte eine schwere Verletzung, und mit dieser mußte er sich auseinandersetzen. Da half es nichts, wütend auf den Jungen zu sein, der den Unfall verursacht hatte… Auf einmal sah er wieder die verschreckten braunen Augen von Frau Baumann vor sich, die vergeblich versuchte, ihm etwas zu sagen. Er schämte sich seines Verhaltens ihr gegenüber sehr. Dabei hatte sie ihm sofort gefallen, auch wenn er das gut verborgen hatte.

      Es klopfte, und er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Besuch erwartete er nicht, aber sonst klopfte hier eigentlich niemand an. »Herein!« rief er.

      Als Lisa Baumann zögernd das Zimmer betrat, verschlug es ihm im ersten Augenblick die Sprache. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Als er sich wieder gefaßt hatte, rief er: »Sie?«

      Sie nickte. »Wenn Sie noch einmal so anfangen wie gestern, gehe ich gleich wieder«, kündigte sie an. Ihre braunen Augen waren nun wirklich sehr ernst auf ihn gerichtet.

      »Nein, keine Sorge«, sagte er schnell. »Ich kann es nur nicht glauben, daß Sie sich