Der Forschungsgegenstand der Ur- und Frühgeschichte Europas, die in diesem Buch von etwa 800.000 v. Chr. bis um 800 n. Chr. reicht, sind die schriftlosen Perioden. Die Ur- und Frühgeschichte endet für eine Region oder die hier siedelnden Menschen dann, wenn ein Volk über eine eigene Geschichtsschreibung verfügt und so aus dem Dunkel der Geschichte in eigenen Worten heraustritt. Diese Zeit ist für weite Teile Europas durch das fast vollständige Fehlen von Schriftquellen gekennzeichnet und lässt sich nur durch andere Wissenschaften, wie die Sprachwissenschaft, die Archäologie und seit kurzem auch durch die Genetik2, erfassen.
Die Vorgeschichte wird traditionell nach dem 1836 vom dänischen Archäologen Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) entwickelten Dreiperiodensystem in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit geteilt. Diese Einteilung gilt heute nur noch bedingt, neue Forschungen der letzten Jahre haben eine Vielzahl von Verästelungen und neuen Datierungen in diesem Periodensystem ergeben, sodass sie nur mehr als grobe Richtlinie gelten kann. Dazu kommen die starken regionalen Unterschiede bei der Periodisierung dieser Epochen in Europa, die oft mehrere Jahrhunderte und bis zu 1.000 Jahre betragen können.
Im Groben folgt die Urgeschichte dieser Einteilung bis heute:
Paläolithikum (2,6 Millionen Jahre bis etwa 13.000 v. Chr.) und Mesolithikum (13.000–7.000 v. Chr.):
Alt- und Mittelsteinzeit bezeichnen jene Zeitepochen, in denen die Menschen noch nicht sesshaft waren. In diesem langen Zeitraum kam es zu weitreichenden klimatischen Veränderungen. Schlechte Erhaltungsbedingungen führten zu wenigen archäologischen Hinterlassenschaften.
Neolithikum (etwa 7.000–2.300 v. Chr.):
Den Übergang zur Jungsteinzeit kennzeichnet ein grundlegender Wandel der Kultur, dessen Ergebnis, Sesshaftigkeit und ab etwa 6.000 v. Chr. die Produktion von Nahrungsmitteln durch Landwirtschaft, unsere heutige Kultur noch immer prägt. Dieser nachhaltige Wandel wurde vom Historiker Vere Gordon Childe als »Neolithische Revolution«3 bezeichnet, ein Ausdruck, der heute nicht mehr unumstritten ist.
Bronzezeit (etwa 2.500–800 v. Chr.):
Ab etwa 5.500 v. Chr. tritt zur Steinbearbeitung auch schon die Verwendung von Kupfer, daher wird diese Zeit auch als Chalkolithikum (Kupfersteinzeit) bezeichnet. Ab 2.500 v. Chr. wird in Mitteleuropa die Kupfer-Zinn-Legierung Bronze für Geräte, Waffen und Schmuck verwendet. Dieser für die prähistorische Forschung auffällige Umstand führte zur Benennung der zweiten großen urgeschichtlichen Epoche als Bronzezeit.
Eisenzeit (ab 800 v. Chr.):
Die letzte Epoche der Urgeschichte ist durch das Aufkommen von Eisen als Material für Waffen und Werkzeuge gekennzeichnet. Sie wird in die ältere Phase der Hallstattkultur und die jüngere Phase der La-Tène-Zeit gegliedert.
In diesem Buch wurde auch die Zeit von 15 v. Chr. bis um 800 n. Chr., gemeinhin als europäische Frühgeschichte bezeichnet, hinzugefügt, da sich in dieser Epoche die wesentliche Auseinandersetzung der Zivilisationen der Antike mit den »barbarischen« Völkern des Nordens abspielte, die in ihrer Gesellschaftsform, den Siedlungsmustern, der Technik, dem Wirtschaften und in ihren religiösen Vorstellungswelten noch in der Urgeschichte verhaftet waren. Erst mit der Annahme des Christentums, der weitum gebräuchlichen Verwendung der Schrift und dem Bewusstsein für die eigene Vergangenheit endet die Frühgeschichte Europas.
Für den weitaus größten Teil seiner Geschichte war Europa ein Kontinent ohne Schrift und Aufzeichnungen, keine Namen von Menschen oder Orten sind uns aus der Frühzeit bekannt. Die Geschichte Europas ist daher weit mehr die des einfachen Individuums, des Jägers und Sammlers, des Bauern und des Schmiedes, als eine Geschichte der Noblen, der Herrscher und Könige. So konzentriert sich die Erforschung der Urgeschichte Europas auf die stille Mehrheit der Menschen und weniger auf das Leben von Königen und Pharaos wie in anderen Kulturen. Dennoch gibt es dabei viel Material zu sichten, die Menschen hatten eine unglaubliche Gabe, nutzbare und wertvolle Gegenstände herzustellen, von fein polierten Steinäxten über Bronzewaffen bis zu Schmuck aus Bernstein, Gold und Silber. Es gibt zwar außer im Mittelmeerraum in der Spätzeit der Urgeschichte keine Paläste, die man ausgraben könnte, dafür aber in einem Großteil Europas megalithische Monumente wie Stonehenge, tausende von Grabhügeln und Dolmen bis hin zu Schiffen der Bronzezeit, deren Fracht bis heute unter der Meeresoberfläche liegt. Obwohl diese Menschen keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben, können wir doch über ihre Hinterlassenschaften wie Gräber, Handelsgüter, Bauernhäuser und Tierknochen ihr Leben rekonstruieren und nachvollziehen, wie weit sich der Kontinent und die hier ansässigen Menschen im Laufe der Jahrtausende geändert haben. Erst in den letzten Jahren hat die Genetik neues Wissen geliefert, welches das Bild der Geschichte, wie wir es bisher kannten, völlig verändert hat und uns nun sagen kann, ob eine Landschaft erobert oder nur mit Ideen neu besiedelt wurde. Funde wie der Eismann von Hauslabjoch haben gezeigt, dass die Menschen der Bronzezeit in ihrer Technik um nichts den gleichzeitigen Hochkulturen in Ägypten und im Zwischenstromland nachstanden, nur war diese eine andere, aber dennoch perfekt an ihre Umgebung angepasst, und ermöglichte ihr Überleben unter schwierigsten Bedingungen. Zwar bauten die frühen Europäer keine Zikkurats, Tempel und Pyramiden, dafür aber Anlagen wie Stonehenge, und gleich wie die Mesopotamier den Himmel studierten konnten sie auf der Himmelsscheibe von Nebra die Sterne des Firmamentes lesen und danach ihren Kalender erstellen.
Bei der Betrachtung der Urgeschichte gehen wir oft sehr großzügig mit den Jahrtausenden um und vergegenwärtigen uns kaum, um welche gewaltigen Zeiträume es sich dabei gehandelt hat und wie schnell sich eine Kultur, wenn einmal Grundlagen geschaffen waren, weiterentwickelt hat. Vom Erscheinen des ersten Menschen in Europa bis zur Einwanderung des modernen Homo sapiens waren es fast 800.000 Jahre oder mehr als 27.000 Generationen von Menschen, der anatomisch moderne Mensch lebt erst seit etwa 2.000 Generationen in Europa, die »Neolithische Revolution« mit dem Beginn der Landwirtschaft ist nur mehr 250 Generationen von uns entfernt, und seit das Römische Reich im Ansturm der »barbarischen« Völker unterging, sind nur 50 Generationen vergangen. Ur- und Frühgeschichte ist also gar nicht so weit von uns entfernt.
Verblüffend ist die Schnelligkeit, mit der sich Ideen in der Urgeschichte entwickelt haben und weitergegeben wurden. Es brauchte lange, bis Kulturtechniken wie das Rad, die Töpferei oder die Landwirtschaft eingeführt waren, aber war einmal die Idee vorhanden, so konnte der Mensch sie in kurzer Zeit über den gesamten Kontinent verbreiten und ausbauen, die Grundideen wurden verändert und den lokalen Gegebenheiten angepasst und neu von den Menschen interpretiert. Dies bezieht sich nicht alleine auf die Landwirtschaft, sondern auch auf die Geistesgeschichte, die Religion und besonders auf die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode. Dabei hatte Europa den Vorteil, dass immer wieder neue Völker aus dem Osten kamen, die Ideen mitbrachten, die sich hier, in den kleinräumigen Landschaften des Kontinentes, in verschiedenster Art und Weise ausprägen konnten.
Dieser Reichtum an Gedanken, Vorstellungen und Ideen, der sich in Europa in der Urgeschichte zu konzentrieren begann, sollte durch alle Zeiten nicht aufhören, bildete die Grundlage für die Hochkulturen der Antike und wirkte bis weit in das Mittelalter und die Neuzeit hinein, in welcher die Nachfahren der europäischen Urbewohner den Kontinent verließen und zur dominierenden Kultur der Welt wurden. Ohne das Leben und die Ideen