Weihnachtserzählungen. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur (Leinen)
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843804776
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geschlossen waren und drinnen eine Kerze brannte, mußte ich ihn notgedrungen sehen. Sein Partner liegt auf den Tod krank, wie ich höre, und da saß er nun allein. Ich glaube, ganz allein in der Welt.«

      »Geist!« hub Scrooge mit gebrochener Stimme an, »führ mich weg von hier.«

      »Ich sagte dir ja«, gab die Erscheinung zur Antwort, »dies sind nur Schatten von Dingen, die gewesen sind. Daß sie sind, was sie sind, darfst du mir nicht zum Vorwurf machen!«

      »Führ mich weg!« rief Scrooge. »Ich kann es nicht ertragen!«

      Er drehte sich nach dem Gespenst um. Da sah er, daß es ihn mit einem Gesicht anblickte, in dem sich seltsamerweise Bruchstücke aller der Gesichter vereinigten, die Scrooge zu sehen bekommen hatte, und er begann mit ihm zu ringen.

      »Verlaß mich! Bring mich zurück. Verfolge mich nicht länger!«

      In dem Kampf – wenn es ein Kampf genannt werden kann, da der Geist, ohne sichtbaren Widerstand zu leisten, doch durch den Angriff seines Gegners nicht berührt wurde – bemerkte Scrooge, daß das Licht des Geistes hoch und hell brannte, und da er das mit seiner Macht über ihn in eine unklare Verbindung brachte, ergriff er die Mütze, die wie ein Lichtauslöscher aussah, und drückte sie ihm mit einer raschen Bewegung auf den Kopf.

      Der Geist verschwand darunter, so daß die Kappe seine ganze Gestalt überdeckte; aber obwohl Scrooge sie mit aller Kraft niederdrückte, konnte er doch das Licht nicht auslöschen, das sich darunter hervor über den ganzen Boden ergoß.

      Scrooge fühlte sich erschöpft und von unwiderstehlicher Schläfrigkeit übermannt und war sich zugleich bewußt, in seinem Schlafzimmer zu sein. Er gab der Mütze noch einen letzten Druck, indes seine Hand erlahmte, und hatte sich kaum ins Bett gelegt, als er auch schon in tiefen Schlaf sank.

      DRITTE STROPHE

       Der zweite der drei Geister

      Als Scrooge mitten in einem wunderbar zähen Schnarchen erwachte und, sich im Bette aufrichtend, seine Gedanken zusammensuchte, brauchte man ihm nicht erst zu sagen, daß die Glocke gerade aushole, um wiederum eins zu schlagen. Er fühlte, daß er eben im rechten Augenblick wieder zum Bewußtsein gekommen sei, um ein Zwiegespräch mit dem zweiten Boten zu führen, der ihm durch Marleys Vermittlung geschickt wurde. Aber da es ihn bei dem Gedanken, welche von den Bettgardinen dieser neue Geist wohl zurückziehen werde, unbehaglich kalt überlief, schlug er sie eigenhändig zu beiden Seiten zurück, legte sich wieder nieder und hielt scharfe Ausschau rund um das Bett. Denn er wollte den Geist im Augenblick seines Erscheinens anreden und sich nicht durch Überraschung einschüchtern und verwirren lassen.

      Leute von freier und forscher Art, die sich rühmen, mit manchem Wasser gewaschen und jeder Tageszeit gewachsen zu sein, umschreiben den weiten Kreis ihrer Begabung zum Abenteuer mit der Behauptung, sie seien zu allem zu gebrauchen, vom Münzenwerfen bis zum Meuchelmord: zwischen diesen äußersten Enden liegt zweifellos eine annehmbar weite und umfassende Reihe von Gegenständen. Ohne nun gerade für Scrooge soviel Kühnheit in Anspruch nehmen zu wollen, stehe ich doch nicht an, euch glauben zu lassen, daß er auf eine ziemlich bedeutende Auswahl seltsamer Erscheinungen gefaßt war und zwischen einem Säugling und einem Nashorn ihn nichts besonders in Erstaunen gesetzt hätte.

      Aber gerade weil er auf alles vorbereitet war, war er keineswegs auf nichts gefaßt, und als nun die Glocke ein Uhr schlug und kein Gespenst erschien, wurde er folglich von heftigem Zittern ergriffen. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde gingen vorüber, doch nichts ließ sich blicken. Inzwischen lag er auf seinem Bett und bildete genau den Kern und Mittelpunkt einer rötlichen Glut, die, als die Glocke ein Uhr schlug, auf sein Bett floß, und, weil sie nur Licht war, viel aufregender wirkte als ein Dutzend Gespenster; denn Scrooge konnte sich durchaus nicht erklären, was sie bedeuten sollte oder woher sie kam. Manchmal fürchtete er beinahe, er bilde in diesem Augenblick einen merkwürdigen Fall von Selbstverbrennung, ohne den Trost zu haben, davon zu wissen. Endlich begann er doch – was du oder ich gleich zu Anfang gedacht hätten, denn immer weiß ja die nicht betroffene Person am besten, was zu tun gewesen wäre, und hätte es unzweifelhaft auch getan! –, zuletzt, sage ich, begann er doch zu mutmaßen, die geheime Quelle des gespenstischen Lichtes könnte in dem anstoßenden Zimmer sein, von dem es, wenn man es weiterverfolgte, auszuströmen schien. Da ihn dieser Gedanke ganz mit Beschlag belegte, stand er leise auf und schlürfte in seinen Pantoffeln zur Tür.

      Im selben Augenblick, da Scrooges Hand den Türdrücker berührte, rief ihn eine unbekannte Stimme bei Namen und bat ihn einzutreten. Er gehorchte.

      Es war sein eigenes Zimmer; daran war kein Zweifel, aber es hatte eine überraschende Umwandlung erfahren. Wände und Decke waren so mit frischem Grün behangen, daß es ganz einem Hain glich, in dem überall prächtig glänzende Beeren schimmerten. Die frischen Blätter der Stechpalme, der Mistel und des Efeus warfen das Licht zurück, als ob ebenso viele kleine Spiegel hier verteilt worden wären, und im Kamin prasselte ein so mächtiges Feuer, wie es dieser plumpe, vorsintflutliche Herd weder in Scrooges noch in Marleys Zeiten noch in vielen, vielen vergangenen Wintern gekannt hatte. Auf dem Boden lagen, zu einer Art Thron aufgeschichtet, Truthähne, Gänse, Wildbret, Hühner, Pökelfleisch, mächtige Schinken, Fäßchen mit Austern, Plumpuddings, geröstete Kastanien, rotbackige Äpfel, saftige Orangen, leckere Birnen, ungeheure Dreikönigskuchen und dampfende Schüsseln mit Punsch, die das Zimmer mit ihrem würzigen Duft erfüllten. Auf diesem Lager saß in nachlässiger Haltung, großartig anzuschauen, ein lustiger Riese, der eine brennende Fackel, fast in der Gestalt eines Füllhorns, in der Hand trug und sie hoch, hoch emporhielt, um ihr Licht auf Scrooge fallen zu lassen, als er rundum schauend unter die Tür trat.

      »Komm herein!« rief der Geist; »komm herein, Mann, und lerne mich näher kennen!«

      Scrooge trat schüchtern ein und beugte sein Haupt vor dem Geist. Er war nicht mehr der störrische Scrooge, der er gewesen, und obwohl die Augen des Geistes klar und gütig waren, verspürte er keine Lust, ihnen zu begegnen.

      »Ich bin der Geist der diesjährigen Weihnacht!« hub die Erscheinung an. »Sieh mich an!«

      Scrooge tat es ehrerbietig. Der Geist trug nur einen einfachen tiefgrünen Rock oder Mantel, mit weißem Pelz besetzt. Dieses Gewand hing ihm so lose um den Körper, daß seine breite Brust bloß war, als ob er es verschmähe, sich künstlich zu schützen oder zu verbergen. Auch seine Füße, die unter dem faltenreichen Gewand hervorsahen, waren nackt, und auf dem Kopf trug er keine andere Bedeckung als einen Kranz von Stechpalmen, an dem hier und da glänzende Eiszapfen hingen. Seine langen dunkelbraunen Locken wallten frei herab, frei wie sein frohes Gesicht, sein funkelndes Auge, seine offene Hand, seine muntere Stimme, sein zwangloses Benehmen und sein heiteres Aussehen. Um seine Hüfte hatte er eine altertümliche Schwertscheide gegürtet, aber kein Schwert stak darin, und die alte Scheide war von Rost zerfressen.

      »Du hast wohl nie zuvor meinesgleichen gesehen?« rief der Geist.

      »Nie!« gab Scrooge zur Antwort.

      »Bist nie mit den jüngeren Mitgliedern meiner Familie umhergewandert?« fuhr das Gespenst fort; »damit meine ich eigentlich – denn ich bin noch sehr jung – meine älteren Brüder, die in den letzten Jahren zur Welt kamen.«

      »Ich kann mich nicht entsinnen!« sagte Scrooge; »ich fürchte nein! Hast du viele Brüder gehabt, Geist?«

      »Mehr als achtzehnhundert!« antwortete der.

      »Eine schauerliche Familie, wenn man für sie sorgen muß!« meinte Scrooge.

      Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht erhob sich.

      »Geist!« sprach Scrooge unterwürfig, »führe mich, wohin du willst. In der vergangenen Nacht stand ich unter Zwang und habe dabei eine Lehre empfangen, die jetzt in mir wirkt. Wenn du mich heute nacht etwas lehren willst, so laß mich daraus Nutzen ziehen.«

      »Berühre meinen Rock!«

      Scrooge tat, wie ihm geheißen, und hielt sich fest.

      Stechpalmen, Misteln, Vogelbeeren, Efeu,