In der Sommerfrische. Anton Tschechow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anton Tschechow
Издательство: Bookwire
Серия: Klassiker der Weltliteratur
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843804660
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Verbrechen selbst. Der lebendige Organismus hat die Fähigkeit, sich schnell an jede Atmosphäre anzupassen und zu gewöhnen, sonst müsste ja der Mensch jeden Augenblick fühlen, welch unvernünftige Grundlage oft die vernünftigste Tätigkeit hat und wie wenig bewusste Wahrheit und Sicherheit in so verantwortungsvollen und in ihren Resultaten schrecklichen Tätigkeiten noch steckt, wie denen eines Pädagogen, eines Richters, eines Literaten …

      Derartige verschwommene und leichte Gedanken, wie sie nur in einem ermüdeten, ausruhenden Hirne entstehen können, zogen Jewgenij Petrowitsch durch den Sinn; man weiß nicht, woher und wozu sie kommen, sie verweilen nur kurze Zeit und scheinen sich nur an der Oberfläche des Gehirns zu regen, ohne in seine Tiefe einzudringen. Für Menschen, die verpflichtet sind, ganze Stunden und sogar Tage amtlich und nur in einer bestimmten Richtung zu denken, sind solche freie häusliche Gedanken ein Komfort, eine angenehme Bequemlichkeit.

      Es war gegen neun Uhr abends. Oben im ersten Stock ging jemand unaufhörlich auf und ab, und noch höher, im zweiten Stock spielte man vierhändig Tonleitern. Das Auf- und Abgehen des Menschen, der, nach der nervösen Gangart zu schließen, qualvoll an etwas dachte oder Zahnschmerzen hatte, und die eintönigen Tonleitern verliehen der Stille des Abends etwas Einschläferndes und stimmten zu trägen Gedanken. Zwei Zimmer weiter, im Kinderzimmer sprachen die Gouvernante und Serjoscha.

      »Der Pa–pa ist gekommen!«, sang der Junge. »Der Papa ist ge–kom–men! Pa! Pa! Pa!«

      »Votre père vous appelle, allez vite!«, kreischte die Gouvernante wie ein erschrockener Vogel. »Hören Sie es nicht?«

      – Was soll ich ihm aber sagen? – fragte sich Jewgenij Petrowitsch.

      Doch ehe er sich etwas zurechtlegen konnte, trat ins Kabinett sein Sohn, der siebenjährige Serjoscha. Es war ein schmächtiges, blasses, gebrechliches Kind, dessen Geschlecht man nur an der Kleidung erkennen konnte. Er war körperlich zart wie eine im Treibhaus gezogene Gemüsepflanze, und alles an ihm schien ungewöhnlich zart und weich: die Bewegungen, das lockige Haar, der Blick, die Samtbluse.

      »Guten Abend, Papa!«, sagte er mit weicher Stimme, dem Vater auf den Schoß kletternd und seinen Hals küssend. »Hast du mich gerufen?«

      »Bitte, bitte, Sergej Jewgenjewitsch«, erwiderte der Staatsanwalt, ihn leicht zurückstoßend. »Bevor wir uns küssen, müssen wir einmal ernst sprechen … Ich bin dir böse und liebe dich nicht mehr. Merk es dir: ich liebe dich nicht, und du bist mir kein Sohn mehr … Jawohl.«

      Serjoscha sah den Vater aufmerksam an, lenkte dann den Blick auf den Tisch und zuckte die Achseln.

      »Was hab’ ich dir denn getan?«, fragte er verständnislos, mit den Augen zwinkernd. »Ich war heute kein einziges Mal in deinem Zimmer und habe nichts angerührt.«

      »Natalja Semjonowna hat sich soeben beschwert, dass du rauchst … Ist es wahr? Rauchst du wirklich?«

      »Ja, ich habe einmal geraucht … Das ist wahr! …«

      »Nun siehst du, jetzt lügst du noch obendrein«, sagte der Staatsanwalt, die Stirn runzelnd, um sein Lächeln zu maskieren. »Natalja Semjonowna sah dich zweimal rauchen. Du hast dir also drei Vergehen zuschulden kommen lassen: du rauchst, du nimmst aus der Schublade fremden Tabak und du lügst. Drei Vergehen!«

      »Ach, ja–a!«, erinnerte sich Serjoscha und lächelte mit den Augen. »Es ist wahr, es ist wahr! Ich habe zweimal geraucht: heute und früher.«

      »Nun siehst du: also nicht einmal, sondern zweimal … Ich bin mit dir sehr, sehr unzufrieden! Früher warst du ein guter Junge, jetzt bist du aber, wie ich sehe, schlecht geworden.«

      Jewgenij Petrowitsch zupfte Serjoscha den Kragen zurecht und dachte sich:

      – Was soll ich ihm noch sagen? –

      »Ja, es ist nicht schön«, fuhr er fort. »Ich hatte es von dir nicht erwartet. Erstens hast du nicht das Recht, fremden Tabak zu nehmen, der dir nicht gehört. Jeder Mensch darf nur über sein eigenes Gut verfügen; wenn er aber fremdes nimmt, so ist er … kein guter Mensch! (– Es ist nicht das Richtige, was ich ihm da sage! – dachte sich Jewgenij Petrowitsch.) Natalja Semjonowna hat zum Beispiel einen Koffer mit Kleidern. Dieser Koffer gehört ihr, und wir, d. h. ich und du, haben nicht das Recht, diesen Koffer anzurühren, denn er gehört nicht uns. Das stimmt doch? Du hast deine Pferdchen und Bildchen … Ich nehme sie doch nicht? Vielleicht möchte ich sie auch nehmen, aber sie gehören nicht mir, sondern dir!«

      »Nimm sie, wenn du willst!«, sagte Serjoscha, die Brauen hebend. »Bitte, Papa, genier’ dich nicht, nimm! Das gelbe Hündchen auf deinem Tisch gehört ja auch mir, und doch sage ich nichts … soll es nur hier stehen!«

      »Du verstehst mich nicht«, versetzte Bykowskij. »Das Hündchen hast du mir geschenkt, es gehört jetzt mir, und ich darf damit alles tun, was ich will; den Tabak habe ich dir aber nicht geschenkt! Der Tabak gehört mir! (– Ich erkläre es ihm ganz falsch! – dachte sich der Staatsanwalt. – Es ist nicht das Richtige! –) Wenn ich fremden Tabak rauchen will, so muss ich vor allen Dingen um Erlaubnis bitten …« Bykowskij begann, träge einen Satz an den andern hängend und sich der Kindersprache anpassend, seinem Sohne zu erklären, was Eigentum bedeutet. Serjoscha starrte ihm auf die Brust und hörte aufmerksam zu (er liebte es, sich in den Abendstunden mit dem Vater zu unterhalten); dann lehnte er sich gegen den Tisch und fing an, seine kurzsichtigen Augen zusammenkneifend, die Papiere und das Tintenfass zu betrachten. Sein Blick schweifte über den Tisch und blieb am Fläschchen Gummiarabikum hängen.

      »Papa, woraus macht man Leim?«, fragte er plötzlich, das Fläschchen zu seinen Augen hebend.

      Bykowskij nahm ihm das Fläschchen aus der Hand, stellte es auf seinen Platz und fuhr fort:

      »Zweitens rauchst du … Das ist sehr schlimm! Wenn ich rauche, so folgt daraus noch nicht, dass man rauchen darf. Ich rauche und weiß dabei, dass es nicht gut ist, ich mache mir deswegen Vorwürfe und liebe mich nicht … (– Ein guter Pädagog bin ich! – dachte sich der Staatsanwalt.) Der Tabak ist für die Gesundheit sehr schädlich, und jeder, der raucht, stirbt früher, als er sonst hätte sterben sollen. Besonders schädlich ist es aber für so kleine Kinder wie du. Du hast eine schwache Brust und bist noch nicht kräftig genug; bei schwachen Menschen ruft aber der Tabakrauch Schwindsucht und andere Krankheiten hervor. So ist auch Onkel Ignatij an der Schwindsucht gestorben. Hätte er nicht geraucht, so wäre er vielleicht auch heute noch am Leben.«

      Serjoscha sah nachdenklich auf die Lampe, berührte mit den Fingern den Lampenschirm und seufzte.

      »Onkel Ignatij spielte gut Geige!«, sagte er. »Seine Geige ist jetzt bei den Grigorjews!«

      Serjoscha lehnte sich wieder gegen den Tischrand und wurde nachdenklich. Auf seinem blassen Gesicht war ein Ausdruck erstarrt, als lausche er oder verfolge die Entwicklung seiner eigenen Gedanken; Trauer und etwas wie Schreck zeigten sich in seinen großen, unbeweglichen Augen. Wahrscheinlich dachte er jetzt an den Tod, der vor so kurzer Zeit seine Mutter und den Onkel Ignatij geholt hatte. Der Tod bringt die Mutter und die Onkels ins Jenseits, ihre Kinder und Geigen bleiben aber auf der Erde zurück. Die Toten wohnen im Himmel, irgendwo bei den Sternen und blicken von dort auf die Erde herab. Ob sie die Trennung ertragen können?

      – Was soll ich ihm sagen? – dachte sich Jewgenij Petrowitsch. – Er hört mir gar nicht zu. Offenbar hält er weder seine Vergehen, noch meine Gründe für wichtig. Wie soll ich es ihm klar machen? –

      Der Staatsanwalt erhob sich und fing an, auf- und abzugehen.

      – Früher, zu meiner Zeit, wurden solche Fragen höchst einfach gelöst, – dachte er sich. – Jeder Junge, den man beim Rauchen erwischte, bekam seine Tracht Prügel. Die Kleinmütigen und Feigen gaben dann das Rauchen wirklich auf, die Klügeren und Tapferen fingen aber nach der Strafe an, den Tabak im Stiefelschaft zu verwahren und in der Scheune zu rauchen. Und wenn man so einen in der Scheune erwischte und wieder bestrafte, so rauchte er von nun an am Fluss … und so ging es, bis der Junge heranwuchs. Meine Mutter beschenkte mich, um mich vom Rauchen abzuhalten, mit Geld und Süßigkeiten. Heute erscheinen aber