Die Zitate aus den einzelnen Stücken sind entnommen aus der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig und Dorothea Tieck aus dem 19. Jahrhundert (Ausgabe erschienen im Warschauers Verlag, Berlin, ohne Jahresangabe). Die englischen Texte stammen aus The Complete Works of William Shakespeare, herausgegeben von W. J. Craig (Oxford University Press, London, 1926). Die Texte der Sonette stammen, wenn nicht anders angegeben, aus der Ausgabe Shakespeares Sonette, erläutert von Alois Brandl und übersetzt von Ludwig Fulda (Cottasche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin, 1925). Die Textgrundlage für Die beiden edlen Vettern ist die Übersetzung von Ferdinand Adolph Gelbcke (in Die englische Bühne zu Shakespeares Zeit. Zwölf Dramen seiner Zeitgenossen, Band III, Brockhaus, Leipzig, 1890). Die Rechtschreibung und Interpunktion wurden behutsam modernisiert, wobei bewusst auf die neue Rechtschreibung verzichtet wurde.
DEN AUGENBLICK,
DA ICH EUCH SAHE...
Wer liebte je und nicht beim ersten Blick?
Who ever loved that loved not at first sight?
(Wie es euch gefällt, III, 5)1
Verkleidung, du bist eine Schalkheit
In Was ihr wollt ist Orsino, Herzog von Illyrien, in Olivia verliebt, die jedoch um ihren verstorbenen Bruder trauert und Orsinos Liebe nicht erwidert. Viola wird durch einen Schiffbruch an die Küste Illyriens gespült, verkleidet sich als Mann und tritt als Page unter dem Namen Cesario in Orsinos Dienst. In seinem Auftrag wirbt sie bei Olivia für Orsino. Das hat jedoch zur Folge, dass Olivia sich in die als Cesario verkleidete Viola verliebt, während Viola selbst sich in Orsino verliebt. Wenn man dabei im Hinterkopf behält, dass zu Shakespeares Zeit alle Frauenrollen mit männlichen Schauspielern besetzt waren, nimmt die Mehrdeutigkeit zu: Ein männlicher Schauspieler spielt eine Frau, die sich wiederum als Mann verkleidet. Viola und Olivia begegnen sich das erste Mal, als Orsino Viola zu ihr schickt, um für ihn zu werben.
VIOLA
Ich seh euch, wie ihr seid: ihr seid zu stolz;
Doch wärt ihr auch der Teufel, ihr seid schön.
Mein Herr und Meister liebt euch; solche Liebe
Kann nur vergolten werden, würdet ihr
Als Schönheit ohne Gleichen auch gekrönt. [...]
O liebt’ ich euch mit meines Herren Glut,
Mit solcher Pein, so todesgleichem Leben,
Ich fänd in euerm Weigern keinen Sinn,
Ich würd es nicht verstehn.
OLIVIA
Nun wohl, was tätet ihr?
VIOLA
Ich baut’ an eurer Tür ein Weidenhüttchen,
Und riefe meiner Seel’ im Hause zu;
Schrieb’ fromme Lieder der verschmähten Liebe,
Und sänge laut sie durch die stille Nacht;
Ließ’ euern Namen an die Hügel hallen,
Daß die vertraute Schwätzerin der Luft
»Olivia« schrie. O ihr solltet mir
Nicht Ruh genießen zwischen Erd’ und Himmel,
Bevor ihr euch erbarmt! [...]
Steckt euern Beutel ein, ich bin kein Bote;
Mein Herr bedarf Vergeltung, nicht ich selbst.
Die Liebe härte dessen Herz zu Stein,
Den ihr einst liebt, und der Verachtung nur
Sei eure Glut, wie meines Herrn geweiht!
Gehabt euch wohl dann, schöne Grausamkeit! geht ab
OLIVIA
Wie ist eure Herkunft?
»Obschon mir’s wohl geht, über meine Lage:
Ich bin ein Edelmann.« Ich schwöre drauf;
Dein Antlitz, deine Zunge, die Gebärden,
Gestalt und Mut sind dir ein fünffach Wappen.
Doch nicht zu hastig! Nur gemach, gemach!
Der Diener müßte denn der Herr sein. Wie?
Weht Ansteckung so gar geschwind uns an?
Mich däucht, ich fühle dieses Jünglings Gaben
Mit unsichtbarer leiser Überraschung
Sich in mein Auge schleichen. Wohl, es sei! [...]
Ich tu, ich weiß nicht was; wofern nur nicht
Mein Auge mein Gemüt zu sehr besticht.
Nun walte, Schicksal! Niemand ist sein eigen;
Was sein soll, muß geschehn: so mag sich’s zeigen!
(I, 5)
Da Viola/Cesario für Orsino wirbt, muss Olivia »ihn« zurückweisen. Und doch will sie Cesario wiedersehen und schickt ihren Diener Malvolio hinter »ihm« her. Malvolio soll Cesario einen Ring geben, von dem Olivia behauptet, dass Cesario ihn Olivia als Geschenk von Orsino überbracht hätte. Außerdem soll Malvolio Cesario ausrichten, dass er sich nicht mehr blicken lassen soll, außer um Olivia zu berichten, wie Orsino die Zurückweisung des Ringes aufgenommen hätte. Viola entschlüsselt diese komplizierte Liebesbotschaft mühelos.
VIOLA
Ich ließ ihr keinen Ring. Was meint dies Fräulein?
Verhüte, daß mein Schein sie nicht betört!
Sie faßt’ ins Auge mich, fürwahr so sehr,
Als wenn ihr Aug’ die Zunge ganz verstummte:
Sie sprach verwirrt in abgebrochnen Reden.
Sie liebt mich – ja! Die Schlauheit ihrer Neigung
Lädt mich durch diesen mürr’schen Boten ein.
Der Ring von meinem Herrn? Er schickt’ ihr keinen;
Ich bin der Mann. Wenn dem so ist, so täte