Bei der Annäherung an Tangu weitet sich das Tal zu breiten, grasbedeckten Flächen; hier in etwa 3900 Metern Seehöhe geht der Pflanzenwuchs sowohl in seiner Höhe als auch in seiner Üppigkeit sehr rasch zurück; zugleich ist der Artenwechsel sehr bedeutend. Lärche, Ahorn, Kirschbaum, Spierstaude verschwinden, zurückbleiben Weiden, Wacholder, Strauchbirke, Silbertanne, Eberesche, Berberitze, Johannisbeerstrauch, Geißblatt, Azaleen und viele Rhododendren. Den rasigen Boden bedecken Enziane Fingerkräuter, Geranien, purpurrote und gelbe Meconopsis, Rittersporn, Orchideen, Steinbreche, Glockenblumen, Ranunkeln, Anemonen, Primeln (einschließlich der prächtigen Primula sikkimensis) und drei oder vier Farnarten. Da das Land jetzt viel offener ist, glüht es im Talboden und an den Berghängen von Purpur und Gelb in vielfachen Tönen. Selbst hier nicht, wie überhaupt nirgends im Himalaja, beobachten wir die Farbenflut und Farbenglut, die wir in Kalifornien finden, wo weite Flächen Wiesenland vom Purpur der Lupinen und dem Gold des kalifornischen Mohns flammen. Aber an Menge der Pflanzenarten sind diese Hochtäler des Tistaflusses kaum zu übertreffen. Beim Ersteigen der Bergabhänge oberhalb Tangu finden wir sie von Pflanzen zahlreicher Arten bedeckt, und selbst in 4200 Metern Höhe sammelte Hooker noch über 200 Pflanzen.
Nun aber nähern wir uns der Grenze pflanzlichen Lebens. In 5100 Metern ist die Vegetation nicht mehr alpin, sie ist arktisch geworden, und die Pflanzen dicht an der Schneegrenze sind winzige Primeln, Steinbreche, Enziane, Gräser, Seggen, rasiger Wermut und ein Zwergrhododendron, die alpinste der Holzpflanzen.
Auf der Höhe des Donkiapasses fand Hooker nur eine Blütenpflanze, Arenaria rupifraga. Schwingelgras (Festuca ovina), ein kleiner Farn (Woodsia) und eine Saussurea steigen fast bis ganz auf die Höhe hinauf. Eine rosafarbige, wollige Saussurea und Delphinium glaciale sind zwei der am höchsten wachsenden Pflanzen; sie finden sich meistens in 5250 bis 5400 Metern. Neben einigen dürftigen Moosen gedeihen auf der Höhe mehrere Flechten, wie Cladonia vermicularis, die gelbe Lecidea geographica und die orangerote Lecidea miniata.
In 5500 Metern stieß Hooker auf einem Stein auf eine schöne schottische Flechte eine Gyrophora-Art, das »tripe de roche« der Polarfahrer und die Nahrung der kanadischen Jäger. In den schottischen Alpen ist sie ebenfalls sehr häufig.
Auf dem Gipfel des Bhomtsos, 5610 Meter, fanden sich als einzige Pflanzen die Flechten Lecidea miniata (oder Parmelia miniata), die oben erwähnt wurde, und Borrera. Die erstgenannte winzige Flechte ist auf der Erde in der Arktis, Antarktis und in den Alpen und auch sonst weit verbreitet und tritt öfters in solcher Fülle auf, dass die Felsen orangerot gefärbt sind.
Die volle Reihe pflanzlichen Lebens, vom echt tropischen bis zum abgehärtetsten arktischen, ist nun vollständig. Von der Grenze des ewigen Schnees aus rückwärts schauend, übersehen wir mit einem Blick den ganzen großen Zug. Weder afrikanische noch südamerikanische noch australische Pflanzen haben wir angetroffen und daher auch die Pflanzenwelt keineswegs in ihrer Ganzheit geschaut. Aber von den Tropen bis zur Arktis war die Reihe vollständig und ununterbrochen. In keinem anderen Gebiet könnten wir auf der kurzen Strecke von 160 Kilometern, der Entfernung etwa zwischen Berlin und Leipzig, die gesamte Reihe in so vollständiger Vertretung sehen. Und in der Tat zu sehen, wie riesig in Ausdehnung und Mannigfaltigkeit das pflanzliche Leben ist, das ist etwas ganz anderes, als nur davon Kenntnis zu haben; es ist etwas ganz und gar Verschiedenes, ob man die Blumen in ihrer Körperlichkeit sieht oder ob man nur Beschreibungen liest; und es ist von ganz anderer Wirkung auf uns, wenn wir sie in Massen und an ihren natürlichen Standorten schauen, als wenn wir einige wenige in einem Garten oder in einem Treibhaus erblicken. Hier an Ort und Stelle ist es uns, als seien wir mit dem Herzen der Natur in innigster Fühlung. Wir sehen, wie die Schöpfungen der Natur in frischem, jungem Leben unmittelbar aus dem Urquell emporsteigen. Wir erleben die Freude, die Hand ausstrecken und eine Blume aus der ihr eigenen Umwelt heraus pflücken zu können, sie zu liebkosen, sie nach allen Seiten hin zu untersuchen, ihre Farbe, ihre Gestalt, ihren Bau zu bewundern, ihre Schönheit mit der anderer Blumen zu vergleichen und festzustellen, worauf ihre besondere Schönheit beruht. Niemals werden wir selbst der köstlichsten Orchidee oder der vollkommensten Lilie die Liebe zuwenden können, die wir für die Primeln und Veilchen unseres Heimatlandes empfinden. Aber wir mögen versichert sein, dass unser Naturforscher-Künstler – wenn er im Geist die Eindrücke zusammenfasst, die er auf seiner Fahrt durch die Tropenwälder hinauf zum alpinen Hochland und von dort bis zur Grenze des ewigen Schnees empfangen hat – gewahr werden wird, dass sich der Sinn in ihm unermesslich erweitert hat für die verschiedenartige Schönheit, die in Bäumen und Blättern, in Farnen und Blumen zu finden ist. Er wird dem Ganzen des Pflanzenlebens mit gefestigtem Erkennen gegenüberstehen. Er wird für die diesem innewohnende Schönheit einen verlässlicheren Maßstab besitzen. Unwiderstehlich, aber mit Freuden wird er sich näher an das Herz der Natur herangezogen fühlen.
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