Die tödlichen Gedanken. Stefan Bouxsein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Bouxsein
Издательство: Bookwire
Серия: Mordkommission Frankfurt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783939362135
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Büro.

      Auf dem Stuhl vor der Pinnwand saß jetzt Staatsanwalt Jensen. Er beugte sich ganz nah an die Fotos und rieb sich mit der Fingerspitze über die geschlossenen Lippen.

      »Heute ist der letzte Schultag vor den Sommerferien. Dann könnte es schwierig werden mit den Ermittlungen«, erläuterte Siebels von seinem Schreibtisch aus.

      »Zweimal Frikadellenbrötchen mit Senf macht vier Euro«, sagte Till und lud die Bestellung auf Siebels‹ Schreibtisch ab.

      »Pattexkleber in die Nasenlöcher«, murmelte der Staatsanwalt. »Ob er ihr die Nase zuhalten musste, damit das Zeug drinnen blieb?«

      Till holte eine Tube Uhu aus seinem Schreibtisch. »Möchten Sie es ausprobieren, Herr Staatsanwalt?«

      Jensen blickte auf die Uhutube in der Hand von Till. »Laut Gerichtsmedizin handelt es sich um Pattexkleber, nicht um Uhu. Pattex Sekunden-Alleskleber Ultra Gel von Henkel, um genau zu sein. Besorgen Sie sich mal eine Tube von dem Zeug und machen Sie einen Selbstversuch. Das könnte hilfreich für die Ermittlungen sein. Aber kleben Sie sich dabei kein Paketband über den Mund.«

      Till blickte ungläubig von Staatsanwalt Jensen zu Siebels. Der kaute gerade auf seinem Frikadellenbrötchen herum. »Anna weiß ja jetzt bestimmt, wie man das Zeug wieder aus der Nase rausbekommt«, sagte er etwas undeutlich mit vollem Mund.

      »Für Selbstversuche stehe ich leider nicht zur Verfügung. Überlegen wir uns lieber, ob es für den Klebertod einen bestimmten Grund geben könnte.«

      »Das ist eine unblutige Sache«, überlegte Siebels laut.

      Jensen hing noch konzentriert vor den Fotos. »Er musste ihr die Nase bestimmt zuhalten. Mit dem verschlossenen Mund musste sie ja mit vollem Druck über die Nase ausatmen. Da wäre das Zeug wieder rausgekommen.«

      »Sie musste aber auch über die Nase einatmen und hat sich das Zeug dabei vielleicht immer tiefer in die Nasenhöhle gezogen«, gab Siebels zu bedenken.

      Jensen sprang von dem Stuhl auf. »Wie auch immer, passen Sie bloß auf, dass jetzt nicht alle Verdächtigen für sechs Wochen in den Sommerurlaub verschwinden. Der Fall muss schnellstens gelöst werden, sonst spekuliert uns die Presse im Sommerloch die abenteuerlichsten Dinge zusammen.«

      Till ging zur Pinnwand und heftete das Foto vom schlafenden Lukas Batton dazu.

      »Was ist das?«, erkundigte sich Jensen, der schon auf der Türschwelle stand.

      Till erklärte es ihm.

      »Er hat bei ihr gewohnt?«, fragte Jensen dann argwöhnisch nach.

      »Vorübergehend«, bestätigte Till.

      »Und die hatten was miteinander?«

      Till zuckte mit den Schultern. »Das ist noch unklar. Vielleicht hat sie auch auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen?«

      »Aber warum hat sie ihn dann im Bett fotografiert?«, überlegte Siebels.

      Till zuckte mit den Schultern. »Vielleicht als Andenken. Weil er so süß ist? Komm, fahren wir in die Schule und fragen ihn selbst.«

      »Ich erwarte umgehend einen ersten Bericht«, verlangte Jensen und verließ das Büro.

      4

       Mein Lehrerinnenbuch

       Meine Lehrerin hatte sich nicht ausgezogen. Stattdessen war meine Mutter ins Zimmer gekommen. Sie kommt sonst nur morgens in mein Zimmer, um mich zu wecken. Ich schlafe immer so fest. Sie kam in ihrer Küchenschürze in mein Zimmer und hatte Apfelstrudel dabei. Den hatte sie selbst gebacken. Meine Lehrerin wollte aber keinen Apfelstrudel und ich hatte auch keinen Appetit. Mutter ist trotzdem im Zimmer geblieben und hat meiner Lehrerin dummes Zeug erzählt. Dass ich als Dreijähriger im hohen Bogen von der Schaukel gefallen und mit dem Kopf an einem Baumstamm gelandet sei. Seitdem wäre ich etwas phlegmatisch. Meine Lehrerin wollte wissen, ob mich denn jemand angeschubst hätte, auf der Schaukel. Ich schüttelte mit dem Kopf. Aber Mutter plauderte eifrig weiter. Mein Vater, der Taugenichts, hätte mich viel zu kräftig angeschubst. Schließlich war ich ja erst drei. Ob mein Vater nun auf der Arbeit sei, erkundigte sich meine Lehrerin. Nein, der liege in seinem Grab, Gott habe ihn selig, ließ Mutter sie wissen. Meine Lehrerin sah mich traurig an. Wie alt ich da wohl gewesen sei? Sechs war er, beeilte sich meine Mutter mit der Antwort. Und berichtete auch gleich, dass Vater sich vor den Zug geworfen hatte. Sie hätte ihn identifizieren müssen. Jedenfalls die Einzelteile von ihm, die man auf dem Gleisbett zusammengetragen hatte. Ob es wohl einen Grund für diesen schrecklichen Freitod gab, erkundigte sich meine Lehrerin mit viel Mitgefühl. So ganz ohne Grund springt ja keiner vor den Zug, gab Mutter zu bedenken und hatte damit wohl ausnahmsweise mal recht. Den genauen Grund kannte sie aber auch nicht. Einen Abschiedsbrief hatte Vater nicht hinterlassen. Vielleicht kam ihm die Idee ja ganz spontan? Mutter war da aber anderer Ansicht. Vater wurde verfolgt. Er wollte uns beschützen, deswegen hat er darüber nicht gesprochen. Und auch nicht geschrieben. Aber er hatte Angst gehabt. Ganz große Angst sogar, versicherte meine Mutter der Lehrerin. Aber das spiele ja nun auch alles gar keine Rolle mehr. Der Zug hatte ihn frontal erwischt und seither erzog Mutter mich alleine. Jedenfalls war ich seitdem nicht mehr von der Schaukel gefallen.

       Glücklicherweise verließ Mutter dann doch wieder mein Zimmer. Im Fernsehen begann eine der Serien, die sie so gerne verfolgte.

       »Hast du auch manchmal so Gedanken?«, fragte meine Lehrerin sorgenvoll.

       »Was für Gedanken?«

       »Vor den Zug zu springen.« Sie sprach ganz leise.

       Ich schüttelte den Kopf. »Wollen Sie sich wirklich nicht ausziehen?«, fragte ich sicherheitshalber noch mal nach.

       Sie lächelte mich an und strich mir zärtlich übers Haar. Aber ausziehen wollte sie sich nicht.

       »Ich muss wieder los«, sagte sie wehmutsvoll. »Wenn wir uns wiedersehen, erzählst du mir ein wenig von deinem Vater, ja?«

       Ich nickte. Obwohl ich wusste, dass das kein gutes Licht auf mich werfen würde.

      Als Siebels und Till über den Schulhof liefen, trafen sie auf Sybille Jäger. Die Biologielehrerin stand mit zwei Schülerinnen vor dem Haupteingang zur Schule. An den betroffenen Gesichtern war unschwer abzulesen, worüber gerade gesprochen wurde.

      »Geht es Ihnen wieder etwas besser?«, erkundigte sich Siebels bei der Lehrerin. Frau Jäger nickte schwermütig.

      »Bei den Schülerinnen und Schülern hat es sich schon herumgesprochen. Alle sind fassungslos. Wir versammeln uns in einer Stunde in der Aula.«

      »Haben Sie Lukas Batton heute schon gesehen?«, fragte Till.

      Frau Jäger überlegte einen Moment, schüttelte dabei aber den Kopf. »Nein, noch nicht.«

      »Wir gehen jetzt ins Büro der Oberstufenleitung. Falls Ihnen Lukas über den Weg läuft, schicken Sie ihn doch bitte dorthin«, bat Siebels.

      Sie ließen die Lehrerin wieder mit ihren Schülerinnen allein und betraten das Schulgebäude. Vereinzelt saßen Schüler gelangweilt in den Gängen herum. Unterricht fand anscheinend keiner mehr statt, am letzten Tag vor den großen Ferien.

      Die Oberstufenleiterin trug ein schwarzes Kleid. »Die Schüler sind alle in Ferienstimmung. Wie soll ich aus dem letzten Schultag einen Trauertag machen?«, fragte sie.

      »Es gibt gleich eine Versammlung, habe ich gehört.« Siebels spürte, dass damit eine große Last auf den Schultern der Oberstufenleiterin lag.

      »Ja. Es wäre gut, wenn Sie auch da sein könnten. Vielleicht kann Ihnen von den Schülern oder den Lehrern noch jemand etwas Wichtiges mitteilen.«

      »Ja, wir werden da sein und anschließend zur Verfügung stehen, falls jemand etwas zu sagen