»Zuvor müssen Sie sich aber die Notation erschließen«, sagte von Bremke sanft. »Erlauben Sie mir, Ihnen viel Glück zu wünschen und Ihnen jede Hilfe anzubieten, administrativer Art, die ich Ihnen geben kann.«
Er ging quer durch den Raum zur Tür. Dort zögerte er und wandte sich noch einmal um.
»Es gibt da noch eine Sache, die ich Ihnen sagen sollte«, meinte er, plötzlich unerwartet zaghaft im Ton. »Als Professor Dortmund starb, war er schon geraume Zeit krank gewesen. Eine … Krebsbildung … ein Eingeweidekarzinom. Was diese Symbole auch sonst bedeuten mögen, so steht zudem ein Mann dahinter, der Schmerzen litt. Bitte vergessen Sie das nicht. Sie müssen … sich würdig zeigen.«
Als Daniel seinen Mund zu einer Antwort öffnete, bedeutete ihm Doktor von Bremke durch das Heben seiner Hand, zu schweigen, verbeugte sich elegant und war verschwunden.
Nach zwei Tagen war Daniel klar, dass der Raum, den von Bremke für ihn vorbereitet hatte, sich nicht zum Arbeiten eignete. Weshalb genau, konnte er nicht sagen, denn die Möbel und Einrichtungsgegenstände waren von ebenso vortrefflicher wie effektiver Beschaffenheit: Die Schübe des Aktenschranks ließen sich sanft und widerstandslos bewegen, die Schreibtischlampe gab angenehmes Licht, sein Stuhl war exakt austariert (zumindest hatte ihm der Kurator der Bibliothek dies erklärt), so dass er in einer gesunden Haltung sitzen würde. Sogar der Blick aus dem Fenster (nach Südwesten, über friedlich daliegende Vororte und sich weithin erstreckende Getreidefelder) schien wie für therapeutische Zwecke gemacht, so erholsam und beruhigend war er, und doch eintönig genug, um sich nicht zu lange damit aufzuhalten.
Vielleicht war das der Grund, warum Daniel den Raum so ungeeignet fand: Er gab ihm das Gefühl, ihn dazu zu nötigen, ihn dazu zu zwingen, in einer gesunden Haltung dazusitzen, und ihm nicht zu erlauben, jede Stunde länger als fünf Minuten aus dem Fenster zu schauen. Obwohl er in vielerlei Hinsicht ein methodisch denkender Mensch war, hasste er Disziplin, die ihm von außen auferlegt wurde, und mochte es noch so diskret geschehen. Sollte er ordentlich arbeiten können, musste es, wie es auch in Cambridge der Fall war, zumindest theoretisch die Möglichkeit geben, sich nicht an alles zu halten und sich stören zu lassen – es musste Versuchungen geben, denen er widerstehen konnte. Doch bestand die einzige Versuchung, die sich ihm in seinem Raum im obersten Geschoss bot, darin, die süßlich lächelnde Büste des Archimedes zu zertrümmern, und die war mit großer Wahrscheinlichkeit aus irgendeinem widerstandsfähigen deutschen Material gefertigt, dem selbst ein Dampfhammer nichts anhaben konnte. Nein, wie auch immer er es betrachtete, der Aufenthaltsort, den von Bremke ihm so zuvorkommend zur Verfügung gestellt hatte, war unerträglich. Er würde stattdessen in seiner Unterkunft arbeiten, in einem Lehnsessel hängend, so krumm es ihm gefiel, in einem fort abgelenkt und entzückt von dem grotesken Kirchturm mit der phallischen Spitze, die vor seinem Fenster aufragte, als wolle sie es jeden Moment durchstoßen.
Diese Entscheidung führte zu einigen Schwierigkeiten, Dortmunds Papiere betreffend. Wie von Bremke schon erwähnt hatte, durfte vieles davon das Gebäude nicht verlassen, und der Kurator, ansonsten ein fast immer freundlicher Mann, hielt sich mit teutonischer Hingabe an Vorschriften. Es gab jedoch nichts, was Daniel davon abhalten konnte, Abschriften anzufertigen, und es stellte sich heraus, dass er, wenn er eine Stunde pro Tag damit verbrachte, meist am frühen Abend, wenn sein Arbeitsraum an der Universität ihn am wenigsten abstieß, genug Arbeitsmaterial für die folgenden vierundzwanzig Stunden zusammenbekam. Zugleich erleichterte er sein Gewissen mit dem Gedanken, dass er die von Bremke sorgsam für ihn getroffenen Vorkehrungen auf diese Weise nun doch ein wenig nutzte. Sein Vorgehen hatte, wie er später herausfand, noch einen weiteren Vorteil: Das Kopieren von Dortmunds Manuskriptseiten erforderte eine detailgenaue Aufmerksamkeit, die nicht nur einer gründlichen Einfühlung in die vor ihm liegende Materie förderlich war, sondern ihm mit der Zeit, wenn auch noch begrenzt, ein tatsächliches Verständnis dafür eröffnete, wie die mysteriösen Zeichen gedacht waren, als hätte er vermittels seiner andächtigen Nachahmungstätigkeit eine geistige Nähe besonderer Art erlangt. Mehrmals überraschte er sich selbst dabei, wie er bereits den nächsten Term einer Reihe notierte, bevor er sich die Stelle im Original angesehen hatte; und obschon sich ihm weiterhin die Bedeutung, die der gesamten Notation zugrunde lag, nicht erschloss, war es doch keine geringe Ermutigung, dass er zu verstehen begann, wie man sie anwandte.
So kam es, dass er schließlich anfing, sich auf die abendliche Stunde in seinem ansonsten abscheulichen antiseptischen Dachraum über der Bibliothek zu freuen. Zu dieser Tageszeit ging Archimedes, den Hinterkopf der über den Kornfeldern untergehenden Sonne zugewandt, sein süßliches Lächeln in dem Schatten verloren, der alles bis auf seine noble Stirn überzog; zu dieser Tageszeit drang ein helles, kaum wahrnehmbares Flüstern selbst an diesen sterilen, abgeschiedenen Ort vor, welches ihm von den (wenn auch nicht für ihn bestimmten) Vergnügungen und Reizen des herannahenden Abends kündete; und zu dieser Tageszeit hatte sich, ungefähr zwei Wochen nach seiner Ankunft in Göttingen, Earle Restarick, der Amerikaner, mit einer Verbeugung in Daniels Leben eingeführt, eine hochgewachsene, stille Figur, die durch die Tür geschlüpft war, ohne anzuklopfen, und Daniel mit einem leichten, verführerischen Lächeln entgegentrat, als wollte er verkünden, dass die vom sich neigenden Tag flüsternd angedeuteten Vergnügungen eine Straße weiter auf sie beide warteten und er Daniel nun bei der Hand nehmen und dorthin führen würde.
»Herr Dominus Daniel Mond?«, hatte Earle Restarick stattdessen mit einer tiefen Stimme und ohne eine Spur von Ironie gesagt.
»Ja …?«
»Earle Restarick. Mir wurde angekündigt, dass Sie kommen würden, aber ich war nicht in der Stadt.« Er zog die Augenbrauen zusammen, als hätte man ihn beim Nasebohren erwischt. »Nicht in Göttingen«, setzte er hinzu, und wieder schwangen sich seine Mundwinkel zu dem einladenden und mysteriösen Lächeln auf, das so viel zu versprechen schien und doch wieder nur einen vollkommen nichtssagenden Gemeinplatz zwischenmenschlicher Kommunikation ankündigte. »Ich wollte Sie in Ihrer Unterkunft aufsuchen«, sagte er, »aber die alte Dame teilte mir mit, dass Sie vielleicht hier seien.«
»Ich arbeite hier oft am Abend ein wenig.«
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe?«
Earle Restarick steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich kumpelhaft an den Türrahmen. Amerikaner, dachte Daniel, selbst die gebildeten unter ihnen können den Wunsch anderer, allein zu sein, einfach nicht hinnehmen. ›Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe?‹ war eigentlich keine Frage, sondern Restarick legte damit nicht nur für seine eigene Person, sondern auch gleich für ihn mit, die amerikanische Überzeugung an den Tag, dass kein geistig und moralisch gesunder Mensch eine intellektuelle Beschäftigung menschlicher Gesellschaft vorziehen konnte, wie langweilig oder gewöhnlich die Gesellschaft auch sein mochte. Mehr noch, je gewöhnlicher diese war, umso mehr hatte ein geistig und moralisch gesunder Mensch sie vorzuziehen. Wenn diese neue Bekanntschaft fortgeführt werden sollte, würde Daniel einen Weg finden müssen, ihm klarzumachen, dass Treffen nur nach vorheriger Absprache stattfinden konnten. Dieses eine Mal jedoch, da Restarick sich die Mühe gemacht hatte, ihn aufzusuchen, war das Mindeste, was von ihm erwartet werden konnte, dass er guten Willen zeigte – und es erleichterte ihn doch mehr, als er gedacht hätte, nach zwei Wochen mit einem Mal wieder mit jemandem zu sprechen, der entfernt als einer seiner Landsleute durchgehen konnte.
»Überhaupt nicht«, sagte er. »Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Lassen Sie mich das hier nur kurz zu Ende bringen.«
Er versenkte den Kopf wieder in die Papiere. Restarick hob eine Augenbraue und schlenderte langsam zum Fenster hinüber.
»Ein schöner Blick!«, sagte er, als würde er Daniel zu etwas, das er sein eigen Hab und Gut nennen konnte, beglückwünschen.
»Ja, das stimmt wohl … Nur noch einen kleinen Moment.«
»Eine schöne Skulptur! Mir haben sie Thukydides hingestellt. Weil ich Historiker bin.«
Lieber Himmel … »Entschuldigung, aber die Stelle hier ist grade ein bisschen kompliziert.«
»Ein schöner Schrank!« Restarick ließ ihn nicht in Frieden. Er zog nacheinander jede einzelne Schublade