Auf die Metallwand lief eine graue Bahn zu, vom restlichen Boden matt abgesetzt. Sie war ungefähr fünf Meter breit und verzweigte sich vor der Wand wie eine Gabel mit drei Zinken. Als der erste Container nur noch zehn Meter von der Verzweigung entfernt war, flammten drei riesige Torbögen auf.
Sofort spürte ich das altbekannte Ziehen. Das Cappinfragment unter meiner Maske, die ich geglaubt hatte, nie wieder tragen zu müssen, reagierte auf hyperenergetische Vorgänge.
Es konnte sich folglich nur um Materietransmitter handeln.
Ein Container nach dem anderen wurde von seiner Plattform auf der grauen Bahn zur Wand getragen und an der Verzweigung umgelenkt, worauf er in einem der flirrenden Energiefelder verschwand.
Die Schlange vor uns wurde immer kürzer. Sechs Container lösten sich auf, sieben, acht – dann waren wir dran. Ich spürte, wie wir kurz verharrten und nach rechts gedreht wurden, einige Meter weiterglitten und nach links schwenkten.
Wir näherten uns dem Transmitter unter dem hellen Lodern meines Cappinfragments.
*
Als wir entmaterialisierten, verspürte ich eine ungeheure Anspannung. Ich glaubte, dass jeden Moment Entsetzliches passieren müsste.
Seit über achthundert Jahren war ich nicht mehr mit dem Organklumpen im Gesicht durch einen Transmitter gegangen.
Alte Erinnerungen und Ängste stiegen in mir auf:
Es ist der 15. Februar 3428. Du bist siebenundzwanzig Jahre alt und Techniker bei der Interstellar Equipment und Positronic Inc. Du benutzt eine Transmitterverbindung zwischen Bontong und Peruwall. Als du das Gerät betrittst, bist du noch guter Dinge. Ein wichtiger Auftrag wartet auf dich, der deiner Karriere förderlich sein wird, aber dann geschieht etwas Schreckliches. Du hast den Eindruck, dass dich etwas im Hyperraum aufhält.
Du bist vom Fach. Du weißt, dass so etwas nicht möglich ist. Beim Durchgang durch einen Transmitter vergeht keine Zeit. Und doch spürst du deutlich ein Ziehen und Zerren, als webte sich etwas durch deine Molekülfäden, als bildeten sie eine neue Form.
Du traust diesem Eindruck nicht. Du willst ihm nicht trauen. Der Hyperraum ist unendlich, seine Struktur nicht von dieser Welt. Es kann nicht sein, dass du in einem Kontinuum, dem du nicht materiell, sondern nur als virtueller Daseinsfunke angehörst, mit einer anderen nichtmateriellen Existenz in Verbindung trittst.
Aber das Ziehen und Zerren hört nicht auf. Du fühlst dich wie ein gedehntes Gummiband, das plötzlich reißt und auf sein Ziel zuschnellt. Und der anderen Existenz geht es genauso. Du hörst ihre Stimme, aber nicht, was sie sagt. Sie sagt auch nichts. Sie schreit. Das Wesen, das gerade mit dir zusammengestoßen ist, schreit!
Dann ist es vorbei. Du taumelst aus der Empfangsstation, brichst zusammen. Menschen beugen sich über dich, drehen dich herum – und schreien ebenfalls. Panik bricht aus. Niemand erkennt den Grund. Mehrere Menschen müssen sterben, bevor du und die anderen endlich begreifen, was eigentlich geschehen ist.
Es ist dein Gesicht!
Die gesamte Fläche, bis auf Augen, Nase und Mund, ist von einer schillernden Masse bedeckt. Wenn andere Menschen diese Masse sehen, werden sie wahnsinnig und sterben. Das Unmögliche ist geschehen: Du bist im Hyperraum mit einem anderen Wesen zusammengestoßen, einem Cappin. Die atomare Zellstruktur deines Körpers hat sich mit einem Teil dieses Wesens verwoben; du bist nicht mehr einer, sondern zwei.
Euer Anblick bringt jetzt den Wahnsinn.
Aber du darfst den Menschen ringsum nicht schaden. Sie können nichts für dein Leid. Du musst ihnen helfen und eine Maske tragen, jenen Abbitte leisten, die schon gestorben sind, dich für das Dasein einsetzen, für das kosmische Leben – überall.
Das bist du den Toten im Transmitterraum schuldig.
Also trägst du künftig eine Plastikmaske, die deinen Gesichtskreis einengt. Du gewöhnst dich daran, wie an deine verminderte Sehfähigkeit, aber deine Bewegungen wirken jetzt manchmal ungelenk, zumal du groß und hager bist. Außerdem sprichst du jetzt oft langsam und holprig, als müsstest du erst nach den richtigen Worten suchen.
Du kannst auch nicht mehr als Techniker arbeiten. Bei manchen energetischen Vorgängen spricht dein Cappinfragment an. Dann leuchtet und blitzt es unter der dünnen Maske hervor, aus den Sehschlitzen sticht grelles Licht. Diese hyperfrequenten Aktivitäten zwingen dich in die Knie und gefährden die Wesen in deiner Umgebung.
Aber der Unfall hat dich noch auf andere Weise verändert. Er hat dein Denkvermögen geschärft. Du bist jetzt ein besserer Logiker als früher, der beste der ganzen Menschheit. Kein anderer kann eine Gedankenkette so schnell zu Ende bringen wie du.
Und du hast noch eine neue Fähigkeit, die der Menschheit nützlich sein kann. Du bist ein Cappinspürer geworden – du spürst die Angehörigen des Volkes, dem dein Organklumpen entstammt, auch wenn sie in den Körpern von Terranern vor dir stehen.
Jahrhunderte vergehen, in denen du im Mutantenkorps tätig bist. Deine Arbeit für die Menschheit wird anerkannt. Du bist beliebt, aber nicht gern gesehen.
Die Maske hat dich zur Einsamkeit verdammt. Das stellst du spätestens im Alter von 131 Jahren fest, als Perry Rhodan deinen Einsatz für die Menschheit belohnt: Er verleiht dir einen Zellaktivator!
Jetzt bist du relativ unsterblich und hast alle Zeit der Welt, um den Organklumpen in deinem Gesicht loszuwerden. Warum gelingt es dir nicht? Warum klammert er sich an dich, als wäre er ein Ertrinkender und du der letzte Halt weit und breit?
Du gibst die Hoffnung nicht auf. Du träumst von deinem Gesicht, malst es dir aus, abends vor dem Spiegel, nicht in schillernden, sondern in Hautfarben. Ein Gefühl sagt dir, dass deine Chance kommen wird. Und du wirst sie nicht ungenutzt lassen.
Dann, im Jahr 426 NGZ, ist es so weit. Beim Sturz der BASIS durch den Frostrubin verlierst du den Organklumpen. Du bist überglücklich. Du kannst die Maske wieder abnehmen!
Dein Gesicht ist wie von weißem Kerzenwachs überzogen, die Nase erscheint falsch und wirkt wie aufgeklebt, die Lippen sind blutleer und wulstig.
Aber du bist froh, ein froher Einzelgänger!
Bis du feststellst, dass das Cappinfragment keineswegs fort ist. Es hat sich nur zurückgezogen. Es steckt tief in deinem Körper. Dort tobt es und treibt sein Unwesen, elf Jahre lang, und beruhigt sich erst, als du zum Gänger des Netzes wirst.
Du triffst mit ihm eine Vereinbarung: Beim Netzgehen bildet ihr eine geistige Einheit, bist du körperlich, löst es sich von dir und führt als Testare ein eigenes Leben.
Testare, so heißt also der Cappin, mit dem du zusammengestoßen bist. Testare ...
Zwanzig Jahre lang führt er ein Leben als Körperprojektion. Jede Trennung ist für euch unangenehm, bei längerer Dauer sogar unerträglich. Dann erhält er den Körper eines Barkoniden. Er wird zu einem gewöhnlichen Sterblichen!
Anders als ein gewöhnlicher Sterblicher geht Testare jedoch siebenhundert Jahre später in ES auf. Er wird zum Mittler zwischen der Superintelligenz und den Sterblichen, wechselt sich mit Ernst Ellert ab, dem Wanderer durch die Zeit ...
Dir ist das egal. Für dich zählt nur eines. Schon als Testare sterblich wurde, hat nur eines gezählt: Die Gefahr ist gebannt! Endlich gebannt!
Aber dann erwartet dich die größte Enttäuschung deines Lebens. Hier während deiner Odyssee. Nie hättest du vermutet, dass so etwas geschehen könnte. Du hast schon viel erlebt, bist gewissermaßen ein kosmischer Mensch geworden. Aber einem pararealen Alter ego deiner selbst bist auch du noch nicht begegnet.
Erst wenige Tage ist es her. Die Erinnerung daran ist noch frisch, die Wunde schmerzt. Du spürst mit jeder Faser deines Seins, wie es war, als er an Bord der LEUCHTKRAFT vor dir stand, der Mann mit der Maske, dein anderes Ich.
Auch für ihn war es schmerzlich. Bei deinem Anblick erkannte er sich als nicht real, begriff sich als Spiegelung einer alternativen Realität – und das Fragment wechselte zu dir.