Tripod - Das schwarze Kätzchen
Hanna Nolden
Für Sprotte
©Hanna Nolden 2021
Machandel Verlag Haselünne
Charlotte Erpenbeck
Cover-Bild: kasyanovart, shutterstock.com
Illustration: shekoru / yayimages.com
1. Auflage 2020
ISBN 978-3-95959-309-0
Prolog
Mama. Mama ist warm und weich. Sie drückt uns an sich und ihre Pfoten halten all das Böse von uns fern. Mama ist Milch und Wärme und Schnurren. Ihre raue Zunge wäscht den Schmutz der Welt aus unserem Fell.
Wir wachsen. Wir wachsen schnell. Mama zeigt uns, wie man jagt. Wir huschen hinter ihr her durch das hohe Gras, folgen ihr durch die Felder. Mama verteidigt uns gegen andere Katzen, sagt uns, dass wir uns von den Menschen fernhalten sollen. Und abends kuscheln wir und die Welt besteht aus Milch und Wärme und Schnurren.
Doch plötzlich ist da Lärm. Große gelbe Maschinen pflügen durch die Felder. Wir haben Angst. Wir laufen um unser Leben. Ich kann meine Mama nicht mehr sehen. Wo sind meine Geschwister? Ich rufe nach ihnen, aber der Lärm der Maschinen ist so laut! Und auf einmal ist eine von ihnen direkt über mir. Ein gelber Blitz, und heißer Schmerz jagt durch meinen kleinen Körper …
„Na, wer bist du denn?“
Die rothaarige Menschenfrau beugt sich über mich. Ich zittere vor Angst. Haltet euch fern von den Menschen, hat Mama immer zu uns gesagt. Doch ich kann nicht weglaufen. Ich bin zu schwach und mein Bein tut so weh! Die Menschenfrau hebt mich hoch und stopft mich unter ihren Pullover. Da ist es warm und ich höre auf zu zittern. Ich kann den Herzschlag der Frau hören. Sie riecht nach Katze und Hund und Pferd. Ich spüre, dass sie mir nichts tun wird. Ich habe immer noch Angst, aber ich bin so erschöpft, dass ich einschlafe.
Als ich aufwache, liege ich in einem Käfig. Die Schmerzen sind weg, aber mir ist schwindelig. Ich versuche, aufzustehen. Ich schaffe es nicht. Und da merke ich es: mein Bein! Mein Bein ist nicht mehr da!
„Hab keine Angst, kleines Kätzchen.“ Das Gesicht der rothaarigen Frau taucht über mir auf. „Du wirst wieder ganz gesund und ich weiß auch schon, wer deine neue Familie wird.“
Eine neue Familie? Panik überrollt mich. Ich will keine neue Familie! Ich will meine alte Familie, meine Mama, meine Geschwister! Doch ich ahne, dass ich meine Mama und meine Geschwister niemals wiedersehen werde.
Kapitel 1
Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles in meinem Leben. Leider musste ich schnell feststellen, dass die Schmerzen nur kurz weg gewesen waren. Nach einer Autofahrt, während der ich einschlief, waren sie wieder da. Die Frau mit den roten Haaren war sehr nett zu mir. Vorsichtig nahm sie mich aus dem Transportkorb und bettete mich auf einer weichen Decke.
„Du kannst mich Tante Tanja nennen. Und ich sag dir gleich, dass du nicht bei mir bleiben kannst. Ich habe schon zu viele Katzen, um die ich mich kümmern muss.“
Müde hob ich den Kopf und sah mich im Zimmer um, konnte aber keine weiteren Katzen entdecken. Tante Tanja deutete auf eine verschlossene Tür. „Da geht’s zum Rest des Hauses. Da wohnen meine Katzen und meine Hunde. Normalerweise ist die Tür nicht geschlossen, aber du bist von deiner Verletzung geschwächt und brauchst deine Ruhe. Außerdem kannst du wie gesagt nicht bei mir bleiben. Aber ich habe schon jemanden für dich im Auge. Ich muss bloß ein bisschen herumtelefonieren.“
So war mein erster Tag bei Tante Tanja. Da ich jetzt nur noch drei Beine hatte, musste ich alles neu lernen. Laufen und springen, aber auch mich putzen oder fressen, ohne mit der Nase im Napf zu landen. Mein Essen bestand jetzt aus Fleischbrei, Knusperkissen und Wasser. Milch gab es auch, aber sie schmeckte anders als Mamas Milch. Am liebsten mochte ich den Joghurt, den Tante Tanja mir jeden Tag kurz vor dem Schlafengehen hinstellte. Ich wurde mit jedem Tag munterer und fand, dass es durchaus etwas für sich hatte, jeden Tag zu einer festen Uhrzeit sein Futter zu bekommen. Die Kuschelstunden mit meiner Mama und meinen Geschwistern fehlten mir, aber Tanja versuchte das auszugleichen und knuddelte mich so oft es ging. Die meiste Zeit des Tages saß sie jedoch an ihrem Computer und tippte auf ihrer Tastatur. Sie war nämlich Autorin und schrieb Geschichten. Wenn mir langweilig wurde, turnte ich auf den Bücherregalen herum. Meine ersten Springversuche endeten natürlich platt auf der Nase. Ohne das fehlende Bein fühlte sich mein Körper einfach nicht richtig an. Aber ich übte fleißig und schaffte es bald, auf Tante Tanjas Schoß zu klettern. Von dort aus versuchte ich, ihre Finger zu fangen, die über die Tastatur tanzten. Doch Tante Tanja gefiel dieses Spiel nicht. Also machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich und sah ihr von dort aus bei ihrer Arbeit zu. Wenn Neugier und Tatendrang mich packten, tauchte ich unter das Sofa oder den Schreibtisch. Ich fand jede noch so staubige Ecke und überall roch es äußerst interessant. Einmal sprang ich auf die Fensterbank und sah nach draußen. Die Felder und die Bäume kamen mir bekannt vor. Irgendwo da draußen war meine Familie. Dann schoss mir die Erinnerung an den Tag der großen gelben Maschinen durch den Kopf und mir wurde schwindelig. Hatte meine Familie den Tag überlebt? Oder war ich vielleicht der Einzige von meiner Familie, der noch am Leben war? Und diese Maschinen? Würden sie wiederkommen? Konnten sie ins Haus gelangen oder war ich hier sicher? Die Panik überrollte mich wie die Räder des gelben Monstrums. Ich fauchte, ich schrie, ich fuhr die Krallen aus und dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf Tante Tanjas Schoß, und sie strich mir beruhigend durch das Fell. Sie sang ein Lied für mich, und ich begann zu schnurren. Doch in mir wühlte die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag und an meine Familie, aber ich sollte ja eine neue Familie bekommen und ich konnte es kaum erwarten, sie endlich kennenzulernen. Bestimmt würde es mir besser gehen, wenn ich endlich mein Für-immer-Zuhause gefunden hatte.
Manchmal telefonierte Tante Tanja und jedes Mal, wenn sie zum Telefon griff, hoffte ich, dass sie jetzt diesen einen Anruf tätigen würde, von dem sie gesprochen hatte. Nicht, dass ich es hier nicht nett gehabt hätte, aber allmählich wurde es öde in diesem kleinen Zimmer. Und auf die Fensterbank zum Rausgucken sprang ich bestimmt kein zweites Mal! Außerdem wusste ich ja, dass meine Reise noch nicht zu Ende war.
Eines Tages war es endlich soweit. Tante Tanja kam zu mir und sah mich ernst an. „Ich rufe jetzt Karin an. Drück die Pfoten, dass sie ja sagt.“
Karin. Ich drehte den Namen in meinem Kopf hin und her. Würde das meine neue Mama sein? Gespannt lauschte ich, was Tante Tanja in den Hörer sprach: „Hallo Karin! Na, wie geht es dir?“
Wie es Karin ging, konnte ich nicht hören, aber Tante Tanja nickte mehrmals und sagte Dinge wie „Verstehe“ und „Das war zu erwarten“. Immer wieder sah sie mich an und ich fragte mich, wann es wohl um mich gehen würde.
„Und wie geht es Ben?“
Sie sah mich noch eindringlicher an und ich wurde ganz kribbelig. Wer war Ben? Der Name gefiel mir. Ein schöner, kurzer Name, den ich mir gut merken konnte.
„Ich weiß, du erschlägst mich wahrscheinlich für diesen Vorschlag, aber ich glaube, ich habe da etwas für euch.“
Ich fing an, Tante Tanja um die Beine zu schnurren, um sie zu motivieren, denn jetzt ging’s zur Sache. Also, es ging um mich. Jawohl! Ich hörte nicht mehr richtig zu, ich gab alles beim Schnurren. Und schließlich legte Tante Tanja das Telefon zur Seite und beugte sich über mich: „Es hat geklappt! Sie hat ja gesagt!“
Am nächsten Tag packte Tante Tanja mich in einen Transportkorb. Obwohl ich mich freute, zitterte ich vor Angst. Denn gleich