Ich kann nicht mehr lieben, dachte er, mein Herz ist tot, und das ist kein Wunder. Ich bin einsam, wie ich es noch nie in meinem Leben war, und ich werde für immer einsam bleiben.
Sein neues Zuhause war nur eine Haltestelle entfernt. Es fiel ihm wieder ein, dass er Geburtstag hatte, knapp zwei Stunden noch. Viel Zeit blieb ihm nicht, um noch etwas daraus zu machen. Er war allein und sah keinen Grund zu feiern. Vielleicht wäre es bei sommerlichen Temperaturen einfacher gewesen.
An der Haltestelle Depot stieg er aus. Am Kiosk kaufte er nicht nur die Abendzeitung wie gewöhnlich, sondern außerdem eine kleine Flasche Kupferberg Gold, eine Tafel Schokolade und eine Zigarre. Hinter ihm wartete eine Frau, die damals mit Mann und Kind auf der gleichen Etage gewohnt hatte. Er lupfte seinen Hut, wusste aber nicht, was er sagen sollte, und wollte auch nichts sagen. Sie schaute ihn unter ihrem schwarzen Regenschirm verdutzt an, grüßte aber nicht zurück. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht erkannt. Kein Wunder, er war lange nicht in seiner Heimatstadt gewesen.
Während er die Lotter Straße entlangschlenderte und der Regen ihm in den Kragen rann, fragte er sich, ob ihm seine Wirtin etwas vom Abendessen übriggelassen hatte. Ob sie an die Buttercremetorte gedacht hatte? Lieber wäre ihm ein Schokoladenkuchen, aber das hatte er sich nicht zu sagen getraut.
9. Kapitel
In Hedwig Westermanns Wohnung brannte noch Licht. Die Witwe ging selten vor Mitternacht zu Bett, oft wartete sie noch auf ihn und freute sich über seine Gesellschaft und die Möglichkeit, vor dem Schlafengehen gemeinsam einen Eierlikör zu trinken. Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, stand sie schon im Flur, wie immer in ihrer schwarzen Witwentracht. Die dünnen weißen Haare hatte sie zu einem Kranz geflochten und um den Kopf gelegt. Ihre Augen lachten hinter den kleinen runden Brillengläsern.
»Endlich sind Sie da, Geburtstagskind, ich warte seit Stunden auf Sie! Herzlichen Glückwunsch, lieber Herr Inspektor Conradi!«
Sie führte ihn in die Küche. Auf dem gescheuerten Holztisch stand ein Gugelhupf mit vier Kerzen und sieben Pralinen. »Die Kerzen stehen für jedes Lebensjahrzehnt«, sagte sie und zündete sie an. »Die Pralinen für die Jahre dahinter. Dann passt das!«
Es duftete nach Kohlrouladen. Stundenlang musste sie das Essen auf dem Herd warmgehalten haben. Conradi lief das Wasser im Munde zusammen. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die feuchten Augen und schüttelte immer wieder den Kopf. »Frau Westermann«, sagte er gerührt, »dass Sie daran gedacht haben!«
»Natürlich! Ihren Geburtstag habe ich in meinem Kalender notiert! Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich nicht auf Sie gewartet habe. So spät würde mir das Essen nicht bekommen. Nun setzen Sie sich aber fix hin, bevor die Kohlrouladen noch zerfallen.«
Er ließ sich auf dem knarzenden Holzstuhl nieder und sie bediente ihn. »Mussten Sie unbedingt vor dem Essen rauchen?« Angewidert rümpfte sie die Nase.
»Ich bekenne mich schuldig«, sagte er lachend und wischte sich verstohlen eine Träne weg. »Aber ich konnte nicht ahnen, was mich zu dieser späten Stunde erwartet.« Der Tisch war hübsch gedeckt, feines Porzellan, kristallgeschliffene Weingläser, gestärkte Stoffservietten, frische Nelken in einer Vase.
»Ich weiß ja, wie Ihnen heute zumute ist«, meinte sie und schenkte ihm Rotwein ein, wenn ihm auch Bier lieber gewesen wäre. »An solchen Tagen denkt man immer an die Menschen, die nicht mehr da sind. Das geht mir mit meinem Karl-Heinz auch so. Besonders schlimm ist es an Weihnachten. Da denke ich nicht nur an ihn, sondern auch an meine lieben Eltern. Ich träume davon, wie schön es doch wäre, wenn wir alle wieder in der guten Stube beieinandersäßen! Aber, Herr Conradi, das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Was sollen wir machen, jammern hilft nicht, wir müssen da durch. Vermissen Sie Ihre Frau und Ihr Kind denn immer noch so sehr oder geht es inzwischen?« Sie schaufelte eine Kohlroulade mit viel brauner Sauce und zwei handgerollte Knödel auf den Teller.
Conradi blickte auf die Knödel und lächelte. Ihre Frage ließ er unbeantwortet im Raum stehen. Er wollte mit ihr nicht über seine Gefühle sprechen, nicht an diesem Tag.
Nebenan hörte er jemanden niesen.
»Oh, Verzeihung, Herr Conradi, eine Sache habe ich glatt vergessen. Ich habe Ihnen gar nicht erzählt, dass lieber Besuch da ist.« Sie ging in den angrenzenden Raum. Als sie zurückkam, brachte sie eine junge Frau mit.
»Das ist Fräulein Hubschmied, meine Nichte«, sagte sie strahlend. »Sie ist ab heute Ihre Zimmernachbarin, wohnt direkt gegenüber. Machen Sie sich doch mal gegenseitig bekannt! Ich will Ihnen noch schnell ein Geheimnis verraten: Für Sie beide habe ich zum Nachtisch eine Buttercremetorte im Keller stehen!«
»Nein! Frau Westermann, ich muss doch sehr bitten«, sagte er mit einem Seitenblick auf die junge Frau, »Sie mästen mich! Schauen Sie mich mal an, mein Hemd spannt bereits!«
»Da haben Sie nicht ganz unrecht. Aber mein Karl-Heinz war auch gut gepolstert. Mir gefällt das! Da hat man was zum Anpacken, ich will doch nicht harte Rippen zu fassen kriegen! Na ja, inzwischen hat sich das erübrigt. Aber früher war ich kein Kind von Traurigkeit.«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die junge Dame ungeniert angestarrt hatte. Wenn der erste Eindruck zählte, dann gefiel sie ihm nicht. Eine markante Hornbrille dominierte das schmale Gesicht. Ihre mittelblonden Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengesteckt, was ihr ein strenges Aussehen verlieh. Ihre Kleidung war bieder, sah noch sehr nach 40er-Jahre aus. Sie trug einen fast knöchellangen Faltenrock, einen kurzärmligen Pullover mit Puffärmeln und altmodische Schuhe. Steif streckte sie ihm die Hand entgegen, und er stand auf, um sie mit einer knappen Verbeugung zu ergreifen. Ihre Haut war kalt und feucht.
»Pauline Hubschmied«, sagte sie kühl. »Sekretärin, aber derzeit leider arbeitslos.«
Conradi nickte höflich, kam um den Tisch herum, um ihr einen Stuhl zurechtzurücken. Dann nahm er seinen Platz wieder ein und räusperte sich nach einem kurzen Blickwechsel mit seiner Vermieterin.
»Sie freuen sich sicherlich, dass Sie nun etwas Gesellschaft haben, nicht wahr?« Die alte Dame füllte zwei weitere Gläser mit italienischem Wein. »Dann wollen wir mal auf Ihren Geburtstag anstoßen«, sagte sie feierlich und hob ihr Glas. »Zum Wohl, lieber Herr Conradi, auf Ihre Gesundheit!«
»Von mir auch«, sagte Pauline Hubschmied schüchtern. Sie prostete ihm zu.
Johann Conradi bedankte sich höflich, trank einen Schluck und nahm dann sein Besteck auf. Der Wein schmeckte süß, zu lieblich für seinen Geschmack.
»Sie haben schon gegessen?«, wandte er sich an die junge Frau.
»Vor mehr als drei Stunden«, meinte sie lächelnd. Aber von der Buttercremetorte würde ich noch ein Stück nehmen.«
»Gefällt Ihnen Ihr Zimmer?«, begann er schwerfällig die Konversation. Lieber hätte er seine Ruhe gehabt. Er war müde nach dem langen Tag und verspürte nicht die geringste Lust auf belanglose Gespräche.
»Ich bin froh, dass ich es habe. Meine Eltern leben nicht mehr. Ich habe eine Weile bei Verwandten in Hamburg gelebt, wollte aber lieber zurück nach Osnabrück. Zum Glück hat meine Tante noch ein Zimmer frei gehabt.«
»Meine Abstellkammer«, sagte Hedwig Westermann augenzwinkernd, »aber meine Nichte ist genügsam. Meine Koffer und die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck durften sogar drinbleiben.«
Johann Conradi suchte etwas in Pauline Hubschmieds Augen, etwas, das ihn fesselte, reizte, seine Neugier weckte, aber da war nichts. Sie wirkte zu bemüht und angestrengt, um locker mit ihm zu plaudern. Sie hatte nichts Interessantes zu erzählen und stellte ihm keine Fragen, die ihn unter Umständen angeregt hätten, von sich zu berichten. Er seinerseits