Also sprach Corona. Wilfried Nelles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Nelles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783958033917
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längst wieder verwandelt. Ich war sogar schon vor eurer Erde da, manche von euch sagen, wir seien bereits in der Ursuppe geschwommen. Ob das nun stimmt oder nicht: Ich gehöre genauso zur Erde wie ihr.

      Wir Viren sind sehr primitive Lebewesen oder noch nicht einmal das – es ist schon bezeichnend, dass eure Virologen noch nicht einmal wissen, ob wir Lebewesen sind oder nicht. Die einen sagen dies, die anderen jenes. Wie das so ist in der Wissenschaft. Einige meinen ja, man müsste unbedingt auf sie hören, dabei weiß sie überhaupt nichts Genaues. Alles nur Vermutungen. Ich weiß es übrigens auch nicht, aber mir ist es egal. Ich bin, das ist alles.

      Vielleicht bemerkt ihr es: Wenn ich »ich« sage, meine ich nicht dasselbe wie ihr. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen »ich« und »wir«, deshalb sage ich mal dies, mal jenes. Das, was ihr eine Person oder sogar ein Individuum nennt, kenne ich nicht. Ich bin immer viele, ein riesiger Schwarm, und ich ändere dauernd meine Identität. So überlebe ich. Deshalb könnt ihr mich auch nicht vernichten, in der einen oder anderen Gestalt tauche ich wieder auf. Das könntet ihr übrigens von mir lernen: Wenn ihr euch nicht mit der jeweiligen Gestalt, in der ihr erscheint, also mit dem, was ihr »mein Ich« oder so nennt, verwechseln würdet, wüsstet ihr, dass ihr unsterblich seid. Dann hättet ihr auch nicht eine solche Angst vor mir. Aber das versteht ihr wahrscheinlich nicht.

       Natur

      Also: Ihr seid Natur, und ich bin Natur. Ihr wollt von eurem Natursein aber nichts mehr wissen. Seit ihr die Macht des Denkens entdeckt und mit eurer Wissenschaft ein paar Dinge über das Funktionieren der Natur herausgefunden habt, glaubt ihr, ihr stündet über der Natur, ihr hättet sie so gut wie endgültig im Griff, und sie könnte euch nichts mehr antun. Und dann komme ich, so ein unverschämtes winziges Virus, bringe euer ganzes Leben durcheinander, und ihr wisst auch nach fast einem Jahr noch so gut wie nichts über mich, obwohl sich all eure Virologen auf mich stürzen.

      Wenn ich so etwas wie »unverschämt« sage, imitiere ich eure Sprache. All die Attribute, die ihr mir anhängt – böse, schrecklich und so weiter –, haben mit mir nichts zu tun. Ich bin völlig neutral, ich existiere einfach. Dass ich für euch gefährlich bin, ist eine andere Sache. Das ist nun einmal so in der Natur: Einer existiert für den anderen, einer lebt vom anderen, einer stirbt für den anderen, des einen Leben ist des anderen Tod, des einen Tod erhält den anderen am Leben. Das ist das, wovon ihr so viel redet, was ihr aber kaum versteht, nämlich Ökologie.

      Habt ihr euch schon einmal klargemacht, dass ihr von Steinen nicht leben könnt? Leben ernährt sich immer von anderem Leben. Das heißt auch, es ernährt sich vom Tod anderer Lebewesen, das Leben geht sozusagen von dereinen Lebensform in eine andere über. Das, was ihr in der Nahrung aufnehmt und was euch tatsächlich am Leben erhält, sind nicht die Inhaltsstoffe, die Vitamine und Mineralien, und was ihr sonst noch alles in eurer Nahrung mit eurer Wissenschaft isoliert; was euch am Leben hält, ist das Leben in diesen Stoffen. Was dieses Leben ist, weiß eure Wissenschaft aber nicht. Sie kennt nur das, was man messen kann, nur das, was eine Substanz hat. Das Leben hat aber keine Substanz.

      Zwischen uns Viren und euch Menschen oder Tieren ist es aber noch etwas anders: Wir leben von euch, haben aber nichts davon, wenn ihr sterbt. Wir brauchen euch lebendig, um selber existieren zu können. Wir können uns nämlich nicht selbst vermehren, dazu brauchen wir euch. Ihr macht das für uns, und wenn ihr Pech habt, sterbt ihr dabei, und wir sterben dann mit euch. Für euch wie für uns ist es daher am besten, wenn ihr euch an uns gewöhnt. Denn ich lebe nicht nur von euch, sondern ihr lebt auch von mir – mit »mir« meine ich jetzt meine ganze Sippschaft. Ohne uns Viren würdet ihr nicht existieren, und ihr könnt auch heute nicht ohne uns leben. Ich sage das an die Adresse derjenigen, die meinen, sie müssten uns vernichten. Abgesehen davon, dass ihr das nie schafft, ist es auch ganz unnötig. Mit der Zeit werdet ihr euch an mich gewöhnen wie an die anderen aus meinem Stamm, es bleibt euch gar nichts anderes übrig. Ich bin da und werde nie mehr verschwinden. Je schneller ihr das versteht, umso besser könnt ihr euch auf mich einstellen, und umso besser können wir schließlich miteinander auskommen.

      Meditation und Reflexion

       Das Jahr der Ratte

      Am 30. Januar 2020 habe ich unserer Partnerin Xing Shuwen in China geschrieben, dass ich meine für April geplante Vortrags- und Seminarreise absagen möchte. Wenn, so habe ich hinzugefügt, alles gut geht und China die Epidemie (von Pandemie war damals noch nicht die Rede) hoffentlich bald überstanden haben wird, würde ich vielleicht meine Sommerferien opfern und zumindest die Ausbildungskurse dann nachholen (neben öffentlichen Vorträgen und Seminaren im ganzen Land führen mein Sohn und ich zwei mehrjährige Ausbildungskurse in Peking durch). Ich war fast so naiv wie unser Gesundheitsminister, der damals noch verkündete, so etwas wie in China könnte hier nicht passieren, wir in Deutschland seien bestens vorbereitet. Mir war allerdings klar, dass wir, wenn das Virus nach Europa kommen würde, dem viel hilfloser ausgeliefert wären als die Chinesen. Wir waren so gut vorbereitet, dass ich mir Anfang April noch Masken aus China habe schicken lassen, weil es hier keine gab.

      Für die Chinesen fielen nicht nur meine Kurse aus, sondern praktisch auch das Neujahrsfest Anfang Februar. Das Chinesische Neujahrsfest ist etwas ganz anderes als hier, es ist das Fest des Jahres, ungefähr wie Weihnachten und Ostern zusammen. Das ganze Land ist dann unterwegs, um sich eine Woche lang im großen Familienverbund und mit alten Freunden zu treffen und zu feiern. Für die meisten war das jetzt nicht mehr möglich. Zudem war 2020 noch ein ganz besonderes Neujahr, das Jahr der Ratte, der Beginn eines neuen 12-Jahres-Zyklus. In China lebt die Astrologie noch, die Chinesen kennen keinen »Aberglauben« – sie haben nicht, wie das gesamte christliche Abendland und unsere als »Aufklärung« verkleidete säkulare Fortsetzung des Christentums, alle alten Riten und Glaubensinhalte verbannt. Glaube und »Aberglaube«, Fortschritt und Tradition, westliche und traditionelle chinesische Medizin, Wissenschaft und Magie wohnen bei ihnen im selben Haus, mal geht man in dieses Zimmer, mal in jenes, und alle haben ihre Berechtigung. So ist es nicht nur in China, so ist es mehr oder weniger in ganz Asien, soweit es nicht muslimisch ist. In China wohnen sogar Kapitalismus und Kommunismus in derselben WG.

      Der chinesische Tierkreis besteht aus zwölf Zeichen, die jeweils einem anderen Tier zugeordnet sind. Die Ratte ist das erste Tier und hat damit gewissermaßen, ähnlich wie der erste Sohn in der Familie, den höchsten Rang, es leitet immer einen neuen Zyklus ein, der die nächsten zwölf Jahre bestimmt. Ratten stehen in China für höchste Intelligenz und die Fähigkeit, dank dieser Intelligenz auch in schwierigsten Situationen zu überleben. Wenn es Säugetiere gibt, die einen Atomkrieg überleben, dann am ehesten die Ratten. Es scheint, dass diese Intelligenz in diesem Jahr und, wenn man der chinesischen Astrologie folgt, für die nächsten zwölf Jahre besonders gefragt ist. Im Moment macht es mir nicht den Anschein, als ob wir in Europa verstehen würden, was das für uns bedeutet.

      Ich bin auch eine Ratte, im September 2020 hat für mich ebenfalls ein neuer Zyklus begonnen. Als mir das Anfang des Jahres beim chinesischen Neujahrsfest aufgefallen ist, habe ich in der Rückschau festgestellt, dass ich zumindest seit meinem 36. Lebensjahr mit jedem Ratte-Jahr in eine neue Lebensphase eingetreten bin. Vor allem beruflich hat sich in diesen Jahren immer etwas grundlegend geändert, und das seither alle zwölf Jahre. Jetzt habe ich zweimal 36 Jahre hinter mir, mein siebter 12-Jahres-Zyklus hat begonnen, und mir ist klar, dass es vielleicht mein letzter sein wird. Wenn es noch eine Zugabe geben sollte, werde ich sie gerne nehmen, aber innerlich begebe ich mich auf meine letzte Lebensrunde. Dazu passt, dass ich im Mai ein Buch veröffentlicht habe, das die Arbeit dieser letzten 36 Jahre zusammenfasst und sich für mich wie mein Lebenswerk anfühlt.

      Es tut mir gut, mir das Nahen des Todes klar zu machen, sehr gut sogar. Anfangs war ich ein bisschen erschrocken, ich habe immer sehr gerne gelebt und tue dies auch heute noch. Ich wusste zwar, wie alt ich bin, und hatte auch kein Bedürfnis, mich jünger zu machen oder wieder jung zu sein, aber gefühlt habe ich mein Alter nicht, und so gelebt habe ich auch nicht. Jetzt sehe ich die Endlichkeit dieses Lebens, und wenn ich mich darauf einlasse, werde ich seltsamerweise ganz