4. Wir selbst können am Skorbut erkranken.
1. und 2. Dass das Eis weiter nach Norden schwerer passierbar sein kann, ist gewiss möglich, aber kaum wahrscheinlich. Ich sehe gar keinen Grund dafür, es sei denn, dass wir unbekanntes Land im Norden haben. Ist das der Fall, auch gut, dann müssen wir nehmen, was sich uns bietet.
3. Dass uns die Hunde im Stich lassen, ist möglich. Allein ich werde ihnen keine übermäßige Arbeit aufbürden. Alle können nicht unbrauchbar werden und ein Ausfall in Grenzen schadet nichts. Bei dem Futter, das sie bis jetzt gehabt haben, sind sie durch den Winter und die Kälte gekommen und auf dem Marsch werden sie noch besseres Futter erhalten. Außerdem habe ich in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt, was wir selbst ziehen. Und wenn uns alle Hunde im Stich ließen, würde es uns doch gelingen, auch allein vorwärtszukommen.
4. Der schlimmste Fall wäre, dass wir selbst am Skorbut erkrankten. Ich glaube aber kaum, dass wir Skorbutkeime von der »Fram« mitnehmen. Ferner habe ich dafür gesorgt, dass unser Schlittenproviant aus guten, nahrhaften Lebensmitteln besteht.
Selbstverständlich muss man einiges Risiko laufen, aber wenn ich nun einmal alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen habe, so habe ich auch die Pflicht vorwärtszudringen.
Es gibt noch eine andere Frage, die erörtert werden muss: Habe ich das Recht, das Schiff und die Kameraden der Hilfsmittel zu berauben, die die Expedition erheischt? Die Tatsache, dass zwei Mann weniger an Bord sein werden, fällt nicht ins Gewicht, weil die »Fram« ebenso gut mit elf Mann manövrieren kann. Schwerer wiegt, dass wir alle Hunde, mit Ausnahme der sieben Jungen, mit uns nehmen. Nun, man ist an Bord mit Schlittenproviant und allerbesten Schlittenausrüstungen reichlich versehen und ich kann mir nicht denken, dass die Mannschaft Franz-Joseph-Land oder Spitzbergen nicht erreicht, wenn der »Fram« etwas zustößt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dann das Schiff nördlicher als auf 85° verlassen müsste.
Aber angenommen, die Mannschaft wäre gezwungen, das Schiff auf 85° zu verlassen, so würde das voraussichtlich im Norden von Franz-Joseph-Land sein, wo sie 180 Seemeilen, also 334 Kilometer von Kap Fligely entfernt wäre. Tritt der Fall weiter östlich ein, so sind es 240 Seemeilen, 445 Kilometer, nach den Sieben Inseln. Es ist schwer zu glauben, dass es den Leuten bei ihrer Ausrüstung nicht gelingen sollte, diese Entfernung zu bewältigen.
Ich bin jetzt ebenso fest wie früher der Meinung, dass die »Fram« quer durch das Polarbecken treibt und auf der anderen Seite wieder herauskommt, ohne aufgehalten oder zerstört zu werden. Und geschähe dennoch ein Unfall, so sehe ich nicht ein, weshalb die Mannschaft ihren Weg nicht sicher zurücklegen sollte, vorausgesetzt, dass sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet.
Ich glaube darum, dass ich es verantworten kann, dass eine Schlittenexpedition die »Fram« verlässt und dass sie, weil sie so gute Ergebnisse verspricht, unter allen Umständen versucht wird.
Donnerstag, 27. Dezember. Wieder ist Weihnachten vorübergegangen und noch immer sind wir so weit von der Heimat entfernt. Wie traurig ist das! Doch bin ich nicht melancholisch, eher möchte ich sagen, ich freue mich. Mir ist, als ob ich auf etwas Großartiges warte, das noch im Schoß der Zukunft verborgen liegt. Nach den langen Stunden der Ungewissheit schaue ich jetzt das Ende der dunklen Nacht und zweifle nicht daran, dass alles erfolgreich enden wird, dass die Reise nicht vergeblich ist und alle Hoffnungen sich verwirklichen. Das Los eines Forschers ist vielleicht schwer und sein Leben, wie allgemein behauptet wird, voller Enttäuschungen. Aber es hat auch seine schönen Augenblicke, wenn er den Triumph des menschlichen Willens und menschlicher Zuversicht und den Hafen des Glückes und des Friedens winken sieht.
Dies ist das zweite Weihnachtsfest, das wir in der Einsamkeit der Nacht, im Reich des Todes verbringen, nördlicher und tiefer drinnen als je zuvor. Es ist ein seltsames Gefühl zu denken, dass es unser letztes Weihnachten an Bord der »Fram« sein wird! Man wird fast traurig. Das Schiff ist uns zur zweiten Heimat, es ist uns teuer geworden; unsere Gefährten werden vielleicht noch ein drittes Weihnachtsfest, möglicherweise noch mehrere hier zubringen, aber ohne uns; denn wir werden sie verlassen und in die Einsamkeit hinausziehen.
Weihnachten war diesmal ziemlich ruhig, aber sehr angenehm und jeder schien sich wohlzufühlen. Nicht wenig trug zu unserer Freude das Weihnachtsgeschenk des Windes bei, der uns den 83. Grad bescherte.
Wir feierten den Weihnachtsabend natürlich mit einem großen Festessen. Die Tafel brach unter Weihnachtskuchen, armen Rittern, Hirschhörnern, Honigkuchen, Makronen, Napfkuchen. Außerdem hatten wir, Blessing und ich, im Schweiße unseres Angesichts einen »Polar-Champagner 83. Grad« hergestellt, der eine Sensation wurde. Wir waren stolz darauf. Der Champagner war ein Erzeugnis aus der edlen Traube des Polargebiets, der Moltebeere. Er schmeckte allen vortrefflich und mancher Becher wurde geleert. Haufen illustrierter Bücher, Musik, Vorträge und Gesang vervollständigten die Festtagsfreude.
Während wir mit rasselndem Winde zuerst aus Südost und dann aus Ostsüdost und Ost vorwärtstrieben, wurden wir von Tag zu Tag neugieriger, wie weit wir gekommen waren. Aber Schneesturm und bewölkter Himmel erlaubten uns keine Beobachtungen.
Plötzlich rief Hansen heute Nachmittag, es seien über uns Sterne zu sehen. Höchste Erwartung! Aber als er herunterkam, hatte er nur einen Stern beobachtet. Allerdings stand dieser Stern dem Meridian so nahe, dass Hansen daraus entnehmen konnte, dass wir jedenfalls nördlicher als 83°20’ n.Br. standen. Und dieses Ergebnis wurde mit Freudenrufen aufgenommen. Wenn wir noch nicht auf der höchsten nördlichen Breite waren, der je der Mensch nahe gekommen ist, so befanden wir uns immerhin nicht weit davon. Das war mehr, als wir erwartet hatten!
Dienstag, 29. Januar. Mit einem sonderbaren Gefühl gehe ich herum. Gewiss ist tief im Innersten jubelnde Siegesfreude darüber verborgen, dass sich alle meine Träume mit der höher kommenden Sonne verwirklichen. Aber während ich in der vertrauten Umgebung arbeite, überkommt mich manchmal eine tiefe Wehmut. Es ist wie beim Abschiednehmen von einem teuren Freund und einem Haus, das mir lange Schutz gegeben hat. Mit einem Schlag sollen wir dieses Haus und unsere lieben Gefährten auf immer verlassen, soll ich nie mehr das schneebedeckte Deck auf und ab schreiten, nie mehr unter das Zelt kriechen, das Lachen im traulichen Salon hören und im Kreis der Freunde sitzen.
Und dann denke ich daran, dass ich nicht dabei sein werde, wenn endlich die »Fram« die Eisfesseln bricht und den Bug nach Norwegen zurückwendet. Ein Lebewohl gibt jedem Ding im Leben seine eigene wehmütige Färbung wie das Abendrot, wenn der Tag, mag er gut oder schlecht gewesen sein, unter den Horizont sinkt.
Hundertmal wandert mein Blick über die Karte und jedes Mal beschleicht mich ein kalter Schauer. Der Weg, der vor uns liegt, ist so weit und auch voller Hindernisse. Dann aber kommt wieder das Gefühl, dass es gehen muss; es kann nicht anders sein, alles ist zu sorgfältig vorbereitet, es kann nicht fehlschlagen. Inzwischen pfeift der Südostwind über unseren Köpfen und wir treiben beständig nordwärts, dem Ziel entgegen. Wenn ich an Deck gehe und in das funkelnde Sternengewölbe hinausschaue, weichen alle diese Gedanken und es ist mir, als müsste ich ausruhen in diesem Heiligtum, dem dunklen, tiefen, schweigsamen Raum, dem unendlichen Tempel der Natur, in dem die Seele ihren Ursprung zu finden sucht. Strebsame Ameise, was bedeutet es, ob du mit deinem Korn dein Ziel erreichst oder nicht? Alles verschwindet im Meer der Ewigkeit. Unsere Namen werden mit der Zeit vergessen, unserer Taten gedenkt niemand, unser Leben fliegt vorbei wie eine Wolke und verschwindet wie der Nebel, der von der Sonne verjagt wird. Denn unsere Zeit ist ein Schatten, der vorüberfliegt und unser Ende besiegelt, und keiner kehrt zurück.
Zwei von uns werden bald noch weiter in diese ungeheure Wüste, in noch größere Einsamkeit und noch tiefere Stille hineinwandern.
Sonntag, 3. Februar. Wir sind auf 83°43’. Die Zeit der Abreise naht, die Vorbereitungen werden mit Eifer betrieben. Unsere neuen Schlitten aus Eschenholz sind jetzt beinahe fertig und wiegen ohne Kufen 15 Kilo. Alle Mann sind eifrig an der Arbeit. Sverdrup näht kleine Säcke und Polster, die als Unterlage oder Griffe für die Kajaks auf die Schlitten gelegt werden. Johansen und zwei andere stopfen die Säcke voll Pemmikan, der zuvor erwärmt, geklopft und geknetet wird, damit er eine gute Unterlage für unsere kostbaren Boote abgibt.