„Liebe Marina“, sagte er. „Wie du weißt, kann ich ein bisschen Gitarre spielen, und da dachte ich mir kürzlich, es wäre doch romantisch, wenn ich dir ein kleines Ständchen bringen würde. Wenn es dir gefällt, würde mich das freuen. Wenn nicht, kannst du es ja löschen. Ich bitte dich, zu berücksichtigen, dass ich kein Profi bin, okay? Also ... Dann fange ich jetzt mal an ...“
Die Gitarre erklang, und dann hörte Renate Albrecht die alte Drafi-Deutscher-Nummer „Marmor, Stein und Eisen bricht“ mit einem neuen Text. Gabriel sang mit treffsicherer, wohlklingender Stimme: „Hörst du, wie mein Herz heut’ schlägt? - Bumbum. Bumbum. Liebe ist’s, die es bewegt. Bumbum. Bumbum. - Ich bin so verrückt nach dir - hoffe, dass du bleibst bei mir. Wenn die ganze Welt zerbricht, meine Liebe nicht.“
Renate Albrecht hatte genug gehört. Sie beendete Gabriel Kellers Darbietung mit einem blitzschnellen Knopfdruck und nahm die Kassette heraus.
Was mache ich damit?, überlegte sie. Was soll ich damit bloß tun? In den Umschlag zurückschieben? Die Ahnungslose spielen? Das Ständchen des Gemüsehändlers wird Marina gefallen. Es wäre besser, sie würde es nicht hören. Das Tonband könnte auf dem Postweg verloren gegangen sein. Der Umschlag könnte leer angekommen sein. Oder - überhaupt nicht. Ehe sie sich dessen bewusst war, was sie tat, ging sie mit Tonband und aufgerissenem Umschlag aus dem Haus, warf beides in die Mülltonne und schob eine weiße Styroportasse darüber.
Wieder im Haus, meldete sich ihr Gewissen: Das kannst du nicht tun. Dazu hast du kein Recht. Du hast das Briefgeheimnis verletzt. Auf diese Weise verlierst du Marinas Vertrauen!
„Für das Glück ihrer Tochter darf eine Mutter alles, alles tun!“, flüsterte Renate Albrecht trotzig, und dann schlug an diesem Vormittag zum dritten Mal das Telefon an.
Diesmal war Margot am andern Ende der Leitung. „Hallo, Mutti! Wie geht es euch?“, erkundigte sich Renates ältere Tochter.
„Gut. Und wie geht es dir, mein Kind?“
„Mir geht es hervorragend.“
„Das freut mich.“
„Habt ihr meinen Brief bekommen?“, fragte Margot.
„Selbstverständlich. Oh, ich freue mich ja so für dich, Margot. Du musst sehr glücklich sein.“
„Das bin ich.“
„Einer der berühmtesten Filmproduzenten Frankreichs wird mein Schwiegersohn.“ Renate Albrecht verdrehte, verzückt die Augen. „Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. So ein Glück. So ein großes, großes Glück. Wann dürfen wir Jean Paul kennenlernen? Wann stellst du ihn Marina und mir vor?“
„Die Dreharbeiten seines neuesten Films haben gerade angefangen, deshalb können wir im Augenblick nicht weg von hier.“
„Ich verstehe.“
„Am Beginn eines Drehs geht zumeist alles schrecklich drunter und drüber“, erklärte Margot. „Wir kommen nach München, sobald die Wogen sich geglättet haben.“
„Ihr seid jederzeit herzlich willkommen“, sagte Renate Albrecht. „Wie ist Jean Paul zu dir? Behandelt er dich gut?“
„Er trägt mich auf Händen und liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.“
„O Margot, Margot ... Ich ... ich muss gleich heulen.“
Margot lachte. „Aber warum denn, Mutti?“
„Weil ich mich über dein Glück so wahnsinnig freue.“
9
„Ich bin neugierig, wie Marina mein Ständchen gefällt“, sagte Gabriel Keller.
„Meinst du, dass sie es schon hat?“, fragte sein Bruder.
Gabriel schmunzelte. „Die Post wird in unserem Land nicht von Schnecken befördert.“
„Manchmal habe ich diesen Eindruck aber schon“, erwiderte Jochen Keller. Sie befanden sich im Lagerraum und stapelten leere Holzkisten aufeinander.
„Wie geht’s deiner Hand?“, erkundigte sich Gabriel.
Jochen hatte sich gestern an einem rostigen Nagel verletzt. Seine Hand war oberflächlich verbunden. Er zuckte mit den Schultern. „Man kümmert sich am besten nicht um sie“, meinte er.
„Darf ich mal sehen?“, fragte Gabriel.
„Wozu?“
„Nun zeig schon her“, verlangte Gabriel. Er griff nach Jochens Handgelenk und nahm den Verband ab. Die vier Zentimeter lange Wunde war stark gerötet und nässte, der Handrücken war geschwollen. „Das sieht aber gar nicht schön aus“, bemerkte Gabriel.
„Das haben Verletzungen so an sich“, sagte Jochen gleichgültig. Er hatte noch nie viel Aufhebens gemacht, wenn er sich weh getan hatte. „Das wird schon wieder. Ich habe ein gutes Heilfleisch.“
„Damit solltest du zum Arzt gehen“, meinte Gabriel.
„Ach was!“
„Willst du eine Blutvergiftung riskieren?“
Jochen grinste. „Ich bin gegen so ziemlich alles, was man kriegen kann, geimpft.“
Gabriel schüttelte energisch den Kopf. „Nichts da, wir gehen zum Arzt.“
Zwanzig Minuten später betraten die Brüder Dr. Kaysers Grünwalder Arztpraxis. Schwester Gudrun war kurz weggegangen. Marie Luise Flanitzer nahm Jochen und Gabriel in Empfang. Die attraktive Arzthelferin sah sich Jochens Hand an.
Er spielte den Helden, machte auf John Wayne, sagte: „Ist bloß ein Kratzer. Normalerweise gehe ich mit so etwas nicht zum Arzt, aber nun bin ich froh, dass mein Bruder mich dazu überredet hat ... Wissen Sie, dass Sie wunderschöne Augen haben, Schwester?“
Die junge Sprechstundenhilfe schmunzelte. „Ja, das sagt mein Mann auch jeden Tag.“
„Ihr Mann.“ Jochen nickte enttäuscht. „Aha.“
Es befand sich nur ein Patient im Wartezimmer, und nachdem Sven Kayser den abgefertigt hatte, kam Jochen Keller dran. Gabriel durfte seinen Bruder ins Sprechzimmer des Arztes begleiten. Dr. Kayser begrüßte die beiden jungen Männer freundlich und untersuchte anschließend Jochens Hand.
Während er sich erzählen ließ, wie es zu dieser Verletzung gekommen war, reinigte und desinfizierte er die Wunde, bestrich sie mit einer weißen, angenehm riechenden Heilsalbe, legte einen ordentlichen Verband an und verschrieb ein entzündungshemmendes Medikament.
Dr. Kayser fragte sich, ob Gabriel ahnte, welches unvernünftige Ziel Renate Albrecht vor Augen hatte. Sollte er mit ihm darüber reden? Sollte er sich zu seinem Komplizen machen? Sollte er ihm seine Hilfe anbieten - für den Fall, dass Frau Albrecht zu rücksichtslos gegen die innige Liebe der beiden jungen Leute vorging? Oder war es besser, erst mal abzuwarten und erst dann einzugreifen und sich auf Marinas und Gabriels Seite zu stellen, wenn sie gegen die dogmatische Mutter allein