Sich anzupassen kostet weniger Energie und ist bequemer, als gemäß der eigenen Persönlichkeit zu leben. Viele Menschen sind so zumindest halbwegs zufrieden. Wenn Sie an den Punkt kommen, sich zu fragen: „Kann das alles gewesen sein?“, ist es höchste Zeit, dass Sie über Ihre Identität nachdenken und über das, was Sie wirklich wollen.
1.2 Unsere Rollen im System
Zweifellos haben wir alle in unserem Leben unterschiedliche Rollen inne – einige wandeln sich im Laufe der Zeit, andere füllen wir sogar gleichzeitig aus: die Rolle des Schülers, des Auszubildenden, des Studenten, des Angestellten, des Chefs, der Mutter, des Vaters, der Tochter, des Sohns, des Partners, des Freundes etc. In diesen Rollen haben wir klare Aufgaben, wie zum Beispiel lernen, um einen guten Abschluss zu bekommen, sich in das Unternehmen einzubringen und weiterzuentwickeln, Mitarbeiter zu führen oder Kinder zu erziehen.
Die Kunst für den Einzelnen besteht darin, unter diesen verschiedenen Rollen nicht seine eigene Identität zu begraben.
Zum Beispiel müssen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Heranwachsens über Büchern brüten, wenn unsere körperliche Entwicklung eher dazu drängt, nächtelang zu feiern. Wir müssen uns in die Angestelltenrolle einfinden und unseren Platz im Team suchen, obwohl Kollegen uns als Eindringlinge und neue Konkurrenz sehen. Wir müssen die Bedürfnisse unserer Kinder über unsere eigenen stellen, weil wir die Verantwortung für deren Gesundheit und Entwicklung tragen – zumindest solange sie dazu noch nicht selbst in der Lage sind. Oder wenn es um die Pflege von Angehörigen geht, bedeutet das für uns als Betroffene ebenfalls, auf lieb gewonnene Dinge vorerst verzichten zu müssen.
Was ist mit Ihnen?
Angesichts all unserer Rollen, denen wir täglich gerecht werden müssen, dürfen wir unsere Identität nicht aus den Augen verlieren. Frei nach dem Motto: Solange ich meine Rolle gut spiele, läuft alles reibungslos und alle sind gut drauf. Und was ist mit mir?
Viele Menschen – das erlebe ich in meinem Job immer wieder – beginnen erst dann, ihr Leben zu überdenken, wenn irgendein Ereignis sie „wachgerüttelt“ hat. Das kann beispielsweise ein Unfall sein, ein Herzinfarkt oder eine niederschmetternde Diagnose, der Verlust des Arbeitsplatzes, eines geliebten Menschen oder die Trennung vom Partner. All das sind einschneidende Erlebnisse, die einen darauf stoßen, wie wertvoll das Leben ist und wie viel Zeit wir damit verbringen, in der Gesellschaft oder in einer Partnerschaft zu funktionieren. Schließlich fühlen wir uns wohl, wenn wir nicht allein sind. Wir brauchen den Partner, die Familie, Freunde, die Clique, Vereine etc. wie die Luft zum Atmen.
Andererseits richten diese wiederum Erwartungen an uns, die ihrerseits Einfluss auf unsere Identität nehmen.
Die lieben Gewohnheiten
Viele Menschen wissen zwar, in was für einer festgefahrenen Situation sie stecken. Und sie wissen auch, dass sie etwas unternehmen müssen, um für sich einen besseren Weg einzuschlagen, jedoch kommen ihnen häufig ihre Gewohnheiten in die Quere. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie es nur dann leicht haben, wenn sie konform „funktionieren“. Sobald sie nicht mehr in der gewohnten Weise funktionieren, hat das unausweichlich Einfluss nicht nur auf sie selbst, sondern auch auf alle anderen, die sich in demselben System befinden.
Ein System ist ein Gebilde, das aus einzelnen Elementen besteht, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Und zwar so, dass sie eine sinn- oder zweckgebundene Einheit bilden. Man kann sich das wie ein Mobile vorstellen. Sie wissen, was passiert, wenn nur ein kleines Teil seine Position verändert: Das ganze Ding gerät sofort aus dem Gleichgewicht. Genau das passiert, wenn ein Mensch in seinem System auch nur eine kleine Sache verändert: Das System reagiert. Zu diesem System zählt alles, was uns umgibt: die Familie, Freunde, Vereine, der Job, die Nachbarschaft.
Das System bekommt Risse
Sobald sich jemand aus dem System entgegen seinen gewohnten Aktivitäten verhält, bekommt dieses vertraute System Risse – das kann zum Beispiel sein, das Gespräch mit dem Partner zu suchen, weil man sich in der Partnerschaft nicht mehr wohlfühlt, dem Vorgesetzten zu sagen, dass man eine andere Sicht auf die Dinge hat, oder der Familie kundzutun, dass man mit Mitte 30 endlich seinen Lebenstraum verwirklichen und noch mal studieren möchte. Das System wird durch den „Ausreißer“ gewissermaßen gesprengt – sprich: Es funktioniert nicht mehr so wie gewohnt, funktioniert vielleicht gar nicht mehr und zieht im Ergebnis noch einen riesigen Rattenschwanz hinter sich her: Im ersten Beispiel existiert die Partnerschaft von einer Sekunde auf die nächste nicht mehr, die Finanzen müssen geregelt werden, Bank- und/oder Rechtsanwalttermine stehen an, die Kinder leiden unter der Trennung und brauchen ebenso zusätzliche Unterstützung. Ein Umzug muss in die Wege geleitet werden, Schulwechsel, neue Freunde finden etc.
Fakt ist: Wenn das System nicht mehr so funktioniert wie zuvor, hat das oft beinahe unüberschaubare Konsequenzen. Dessen sind sich die Betroffenen durchaus bewusst. Und das ist auch der Grund, warum ihnen der Mut fehlt, den riskanten Schritt zu machen. Also belassen sie alles beim Alten. Sie harren in der Komfortzone aus, obwohl sie wissen, dass es ihnen damit nicht gut geht und sie weiterhin leiden werden.
Wir alle haben verschiedene Rollen zu erfüllen – und das ist gut so. Doch diese Rollen als Vater, Mutter, Geschäftsfrau, Manager dürfen uns nicht unserer Identität berauben. Wenn sie das tun, sollten Sie über das System nachdenken, in dem Sie agieren. Und seien Sie sich dessen bewusst: Ihre Aktionen lösen immer eine Reaktion aus!
1.3 Artgerecht leben
Wir Menschen sind so geschaffen, dass wir uns ständig weiterentwickeln. Uns gegen unsere Prinzipien, ohne Arrangements und ohne Weiterentwicklung unterzuordnen ist für uns ebenso fatal, wie in einer Rolle festgefahren zu sein, ohne es zu merken.
Nehmen wir zum Beispiel die Rolle „Eltern“. Es gibt Menschen, die blühen darin regelrecht auf. Sie wissen aber auch, dass sie diese Rolle irgendwann nicht mehr in derselben Weise bekleiden können wie am Anfang, weil die Kinder auf eigenen Füßen stehen wollen und schließlich ausziehen. Schon allein der Gedanke an diesen Tag schmerzt und viele Eltern fallen nach dem Auszug ihrer Kinder in ein tiefes Loch. Zwar war das eine absehbare Situation, sie haben aber all die Jahre die Augen davor verschlossen. Sie sind allein mit ihrer Situation. Allein mit ihrer Angst, die sich mit dem Erwachsenwerden der Kinder immer weiter aufgebaut, schlaflose Nächte bereitet und auf ihnen gelastet hat wie ein dunkler Schatten. Dabei haben Eltern selbst immer die Möglichkeit, sich weiteren erfüllenden Aufgaben zu widmen. Hobbys, die man „auf Eis gelegt“ hat, weil die Erziehung der Kinder in den Vordergrund gerückt war, kann man wieder aufnehmen.
Ehrenamtliche Tätigkeiten, bei denen man spürt, dass man anderen helfen kann und gebraucht wird, sind eine weitere Möglichkeit gegen diesen Blues. Allerdings ist es hilfreich, frühzeitig genug damit anzufangen und nicht erst, wenn die Koffer der Kinder gepackt und die Zimmer ausgeräumt sind. Schließlich nabeln sich die lieben Kleinen nicht von heute auf morgen ab, sondern stetig ein kleines Stückchen mehr. Wenn Eltern sich dann in demselben Tempo eine zusätzliche Verantwortung erschaffen, ist das zum einen ein Gewinn für beide Seiten und zum anderen tut der Prozess des Loslassens dann weniger weh. So weit die Theorie.
Freunde als Sparringspartner
In der Praxis ist das allerdings gar nicht so einfach umzusetzen. Wenn wir es allein nicht schaffen, uns selbst gegenüber „artgerecht“ zu verhalten, übernehmen Dritte diesen Part für uns: die beste Freundin oder der beste Freund zum Beispiel, die sich natürlich Sorgen machen, weil sie sehen, dass wir leiden. Weil sie uns am besten kennen und um die Werte wissen, die für