Herzlichst
Markus Brand und Frauke Ion
Vorwort von Steven Reiss
Bereits im 19. Jahrhundert, zu Beginn der Psychologie als eigenständige akademische Disziplin, haben die Harvard Professoren William James und William McDougall darauf hingewiesen, dass wir Menschen spezifische Ziele besitzen, die einen Großteil unseres Verhaltens bestimmen. Viele dieser Ziele – auch Instinkte, Bedürfnisse oder Motivatoren genannt – teilen wir mit unseren nahen Verwandten in der tierischen Welt. In seinem Buch Grundlagen einer Sozialpsychologie beschreibt McDougall acht grundlegende Instinkte der menschlichen Natur und argumentiert, dass sie zentrale Aspekte unseres emotionalen, religiösen und sozialen Lebens bedingen.
Aber welche Ziele teilen wir Menschen konkret? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, habe ich gemeinsam mit meinem Team die erste wissenschaftliche Studie überhaupt durchgeführt, die untersucht, was Menschen individuell motiviert. Im Ergebnis deckten wir 16 Lebensmotive oder Bedürfnisse auf. Jeder von uns besitzt jedes Lebensmotiv, aber wir priorisieren sie unterschiedlich. Die spezifische Ausprägung unserer Lebensmotive macht uns zu Individuen, indem sie unser Verhalten und unsere Persönlichkeit beeinflusst.
Nachdem wir die Gültigkeit der 16 Lebensmotive bewiesen hatten, erwarteten wir, dass sie von der Fachwelt begeistert aufgenommen wurden – was nicht geschah. Eine Kollegin drückte es so aus: »Die 16 Lebensmotive sind wirklich interessant. Schade, dass man sie für nichts nutzen kann!« Ihre Worte machten mir klar, dass wir über die Grenzen der Wissenschaft hinaustreten und praktische Relevanz zeigen mussten, wenn wir wirklich etwas erreichen wollten. So nahm ich mir erneut das Werk von James und McDougall vor, um herauszufinden, wie sie mit der Frage nach der praktischen Anwendung ihrer Bedürfnistheorie umgingen. Henry Murray und andere Nachfolger integrierten die Bedürfnistheorie auf Basis der Psychodynamik in die klinische Diagnostik, aber ihr Werk hat nur noch wenig Relevanz für heutige Diagnoseschemen. David McClelland fokussierte sich auf die Erfolgsmotivation. Davon abgesehen habe ich kaum frühere Ansätze gefunden, die Bedürfnistheorien praktisch anwendeten.
Dieses Buch ist vermutlich der detaillierteste Band, der jemals zur praktischen Arbeit mit menschlichen Bedürfnissen erschienen ist. Während frühere Generationen stets an ihre Grenzen gestoßen sind, wenn sie Bedürfnistheorien in die Praxis bringen wollten, haben die 16 Lebensmotive im letzten Jahrzehnt insbesondere in den USA und Europa mit beachtenswertem Erfolg eine breit angelegte Verwendung gefunden: Lebenszufriedenheit, Berufsberatung, Verkauf, Fitness, Unternehmertum, Marketing und vieles mehr.
Markus Brand und Frauke Ion sind Management-Berater mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung in der Anwendung der 16 Lebensmotive. Ihre Energie und Expertise spielen heute eine signifikante Rolle in der Ausweitung und Professionalisierung der Anwendungsfelder. Mit diesem Band haben sie die seltene, vielleicht sogar einzigartige Leistung erbracht, die praktische Implementierung wissenschaftlicher Erkenntnisse über menschliche Ziele im Allgemeinen und der 16 Lebensmotive im Speziellen zusammenzutragen und auch für andere verfügbar zu machen.
Dr. Steven Reiss
Emeritierter Professor für Psychologie
Ohio State University
Columbus, Ohio
∎ MARKUS BRAND/FRAUKE ION
Das Reiss Profile und die 16 Lebensmotive
»Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.« ARTHUR SCHOPENHAUER
Ganz im Sinne dieser berühmten These von Arthur Schopenhauer machen die 16 Lebensmotive eines Menschen sichtbar, was er in seinem Leben wirklich will. Aber um zu erkennen, was wir mit diesen Motiven in unserem Alltag tun können, helfen uns Trainer, Coachs oder Berater. Sie sind die Experten, die durch ihre Erfahrungen die Chancen und Möglichkeiten aufzeigen können, die sich aus einer Kenntnis der eigenen Motivstruktur ergeben. Dieses Praxiswissen geben führende Reiss Profile Master in den späteren Beiträgen dieses Sammelbands an Sie weiter. Wir machen den Anfang mit einer Einführung in die Theorie der 16 Lebensmotive und des Reiss Profiles.
Die Idee
»Manchmal sind wir von unserem Alltag so in Anspruch genommen, dass wir das Gesamtbild aus den Augen verlieren und vergessen, uns zu fragen, wer wir eigentlich sind und was wir im Leben anstreben. […] Oft bedarf es erst eines einschneidenden Ereignisses, wie z. B. einer lebensbedrohlichen Erkrankung, […] damit wir über den Sinn unseres Lebens nachdenken« (Reiss 2009a, 11). Steven Reiss spricht aus eigener Erfahrung. Im Jahr 1995 wurde der Professor für Psychologie und Psychiatrie so krank, dass lange nicht klar war, ob er überleben würde. Im Krankenhaus dachte er viel über sich, das Leben allgemein und sein Leben im Speziellen nach. Als eine Krankenschwester seine Temperatur maß, stellte er sich die Frage, warum sie nicht etwas tat, was ihr eine größere Freude machte. Wenn wir nur aufgrund dessen handeln, was uns die meisten positiven und die wenigsten negativen Gefühle bringt, wie die Vertreter des Pleasure Principle behaupten – wer würde dann freiwillig in einem Krankenhaus arbeiten wollen? Mit all den kranken und sterbenden Menschen (vgl. Reiss 2009a, 16)? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wuchs in Reiss die Überzeugung, dass Freude und Schmerzen unser Verhalten nicht halb so stark beeinflussen, wie viele Psychologen in der Vergangenheit angenommen haben. Freude ist vielmehr ein »Beiprodukt«, wenn wir bekommen, was wir uns wünschen. Zum Glück konnte Steven Reiss wieder vollständig genesen. Aber die Krankheit hatte seine Sicht auf die Welt verändert. Als er das Krankenhaus verließ, war er entschlossen, eine neue Theorie über menschliche Bedürfnisse zu entwickeln, die auf Sinnstiftung statt auf Wohlbefinden basiert (vgl. Reiss 2009a, 17).
Forschung
Nur wenige wissen, dass eine große Zahl von Analysen über das menschliche Verhalten gar nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen beruht. Steven Reiss hingegen hatte den Anspruch, seine Theorie von A bis Z auf wissenschaftlich gültige Untersuchungen mit objektiven Messkriterien zu stützen. Im Gegensatz zu anderen Forschern hatte er auch keine Hypothese im Hinterkopf, die er mit seinen Studien beweisen oder widerlegen wollte. Vielmehr entwickelte er ein Test-design, mit dem er Menschen in den verschiedensten Lebensstadien und aus unterschiedlichen Kulturen zunächst offen fragte, was ihrem Leben einen Sinn verliehe. Die Liste mit 328 Werten, die er nach seiner Umfrage erhielt, reduzierte er gemeinsam mit seiner Kollegin Susan Havercamp über statistische Verfahren wie die Faktorenanalyse immer weiter. Sie identifizierten anfangs 15, später 16 voneinander unabhängige Variablen und damit die 16 Lebensmotive, die uns als fundamentale Werte motivieren: Macht, Unabhängigkeit, Neugier, Anerkennung, Ordnung, Sammeln / Sparen, Ehre, Idealismus, Beziehungen, Familie, Status, Rache / Kampf, Eros, Essen, Körperliche Aktivität und Emotionale Ruhe.
Jeder Mensch besitzt jedes Lebensmotiv, allerdings ist sein jeweiliges Bedürfnis danach im Vergleich zu anderen unterschiedlich ausgeprägt. Dabei sind die Ausprägungen eines Lebensmotivs niemals wertend zu betrachten: Es gibt keine guten oder schlechten, sondern nur unterschiedliche Prägungen. Über das Reiss Profile als Diagnostik-Instrument kann man die individuellen Ausprägungen der Lebensmotive eines Menschen im Verhältnis zur landestypischen, jeweils nach Geschlecht und Altergruppe differenzierten Vergleichsgruppe erheben.
Das Reiss Profile
Die persönliche Motivstruktur eines Menschen wird über einen Fragebogen mit 128 Aussagen ermittelt, wie z. B.: »Ich übernehme gerne eine dominierende Rolle« oder »Ich ärgere mich sehr, wenn ich in aller Öffentlichkeit einen Fehler mache«. Die Antworten werden von einem zertifizierten Reiss Profile Master über ein Onlinetool ausgewertet und in einem Balkendiagramm zusammengefasst. Dieses Diagramm stellt jedes Motiv in seiner individuellen Ausprägung als Balken zwischen den Werten - 2 und +2 dar (siehe Abb. 1).
Der mittlere Bereich »Durchschnitt« beinhaltet die Motive