Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus. Ernst von Waldenfels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst von Waldenfels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9788711449530
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verbannt.

      Ebenso charakteristisch für das silberne Zeitalter wie der Okkultismus war die Faszination durch alles, was aus Indien kam. Man las die indischen Philosophen Ramakrishna und Vivekananda, vertiefte sich aber auch in die Veden und andere Texte des indischen Altertums. Das war ein gesamteuropäisches Phänomen. Da es in den alten Texten heißt, als hellhäutig beschriebene »Arier« hätten das Sanskrit und die in ihm geschriebenen heiligen Texte nach Indien gebracht, sollten die Nationalsozialisten eben diesen Namen für die von ihnen auserwählte Rasse übernehmen. Doch wie die Slawophilen in Russland zeigten, konnte man auch zu ganz anderen Schlüssen kommen. Nikolai Roerichs Mentor Stassow war durch die These bekannt, »die slawischen und die indischen Kulturen des Altertums seien eng miteinander verwandt und das indische Epos Mahabharata habe die alte russische Epik beeinflusst«.93 Alexander Blok spürte bekanntlich dem »Skythischen« in der russischen Seele nach, und unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg war der Gedichtzyklus Gitanjali des indischen Dichters Rabindranath Tagore, der 1913 den Literaturnobelpreis erhielt, in ganz Europa eine Sensation.

      Nikolai Roerich teilte diese Faszination von Indien und las Vivekandanda, Ramakrishna und die Veden.94 Indien läutete eine neue Phase im Werk Nikolai Roerichs ein. Er malte Bilder wie »Dewassari Abuntu«, »Lakhmi die Siegreiche«, »Die Grenze des Kaiserreiches«, »Krischna«, »Träume Indiens« und »Gaijatris Gebot«. Er schrieb Märchen mit indischer Thematik, und eines davon, »Dewassari Abuntu« versuchte er sogar aufführen zu lassen.

      Kunst ist bekanntlich Geschmackssache, und nicht bei jedem fand Roerichs neue Richtung Anklang. Benois zum Beispiel notierte anlässlich der letzten Ausstellung Roerichs vor der Revolution in sein Tagebuch, seine Bilder seien nicht überzeugend. »In allem merkt man viel zu sehr die Absicht. Auf der anderen Seite erinnern diese komplizierten und gewollt monumentalen Kompositionen auf das Verblüffendste an Illustrationen in deutschen Märchenbüchern oder deutschen Zeitschriften wie ›Jugend‹.«95

      Aber der Effekt dieser Bilder war oft erstaunlich. Besonders wenn die Betrachter sich für Mystik interessierten. Sina Lichtmann, seine treueste Anhängerin, die seine Bilder vier Jahre später, bei einer Ausstellung in New York, zum ersten Mal erblickte, schrieb, ihr sei gewesen, als wäre die Menge plötzlich verstummt. »Ich stand direkt der Unendlichkeit gegenüber und dem ersten Menschen, der sich selbst eine Behausung geschaffen hatte, die sich dem Abbild Gottes verneigte.

      Große Weiten kosmischen Maßstabes, Berge, Ströme von Wasser, massive Felsen, irdische und überirdische Boten, friedvolle Heilige und Helden bevölkerten Roerichs Welt. Mir stockte der Atem, Tränen rannen in die Augen, Gedanken und Gefühle überfüllten das Herz. Meine bis zu diesem Moment verschlossene Welt machte einer anderen Platz: einer Welt nicht irdischer Schönheit und Weisheit.«96

      Auch schrieb Roerich, von Tagore beeinflusst, Gedichte, die im Exil als Blumen aus dem Garten Moryas veröffentlicht wurden. Dieser Gedichtzyklus, zweifellos das Beste, was er je veröffentlicht hat, rief die Bewunderung so verschiedener Persönlichkeiten wie Maxim Gorki und Tagore selbst hervor. »Wir begeben uns auf die Suche nach heiligen Zeichen« begann das 1915 geschriebene Gedicht »Wir werden sehen«. Auf der Suche nach dem Heiligen begegnete der Dichter dem Licht, dem Pfad, dem Labyrinth des Waldes, den Blumen, dem Wasser, den Bergen und der Ewigkeit. So banal und offensichtlich berechnend seine Zeitungsartikel mit ihren Aufrufen zur Schönheit und Kultur klangen, so subtil waren seine Gedichte. Auf den ersten Blick täuschend einfach, waren sie voll archetypischer Symbole, mystisch und schwer zu verstehen.

      Die Suche nach »heiligen Zeichen«, die Faszination von den gleichermaßen schwer fassbaren Mitteilungen aus der Welt des Jenseits und den Theorien Bechterews und Kotiks führten folgerichtig zur Beschäftigung mit der Muse des »silbernen Zeitalters«, der genialen Zusammenfasserin aller okkulten Traditionen und Künderin von der »fünften Wurzelrasse«, deren fortschrittlichster Bestandteil eben die Slawen waren. Dies war Madame Blavatzky, die von sich behauptete, im Namen einer »großen, weißen Bruderschaft«, zu sprechen, die die Menschheit im Verborgenen anleite, und im Auftrag eben dieser Bruderschaft sollte sich Nikolai Roerich 1926 aufmachen, um im sibirischen Altai sein eigenes, ganz persönliches Utopia zu gründen.

      Kapitel 11

      Die große weiße Bruderschaft

      »Eine genaue und völlig faktentreue Biografie dieser bemerkenswerten Frau wird nie geschrieben werden. Sie verbrachte ihr Leben lang damit, sicherzustellen, dass es unmöglich sein würde, Fakten von ihrer Fantasie zu trennen«.97

      Das schreibt die amerikanische Biografin Madame Blavatzkys, Maria Carlson, über Madame Blavatzky, eine Frau, die für wichtig genug erachtet wurde, 2008 von der Universität Oxford in ein Lexikon der hundert bedeutendsten Frauen der Weltgeschichte aufgenommen zu werden. Madame Blavatzky, oder Helena Petrowna Blavatzky, kurz H.P.B., war die Begründerin der Theosophie, einer religionsartigen Bewegung, die ungemein großen Einfluss auf das Geistesleben des späten 19. und des 20. Jahrhunderts hatte. Allein in Russland kann man Einflüsse der Theosophie auf das Werk Kandinskys, Skriabins und Malewitschs nachweisen, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Nicht zu vergessen Anatoli Lunatscharski und Maxim Gorki, deren Doktrin vom »sozialistischen Realismus« nicht nur von Bechterew und Kotik, sondern auch von der Theosophie beeinflusst wurde.

      Das allerdings hinderte später die Bolschewiki nicht daran, die Theosophie zu unterdrücken und ihren Einfluss auf führende Protagonisten des sowjetischen Kulturlebens aus der Geschichte zu streichen. In England und Amerika jedoch dauerte ihr Einfluss an und weitete sich sogar aus. Neben Künstlern wie William Butler Yeats, einem der bedeutendsten Dichter englischer Sprache, bekannten sich eine Reihe Abgeordneter des britischen Unterhauses zur Theosophie, und der wichtigste Bankier seiner Zeit, Sir Norman Montagu, der Leiter der britischen Notenbank, war ebenfalls Theosoph. Wie in England war die Theosophie in den USA gerade unter den Reichen und Mächtigen weit verbreitet. Henry Wallace, der neben Roosevelt lange Zeit mächtigste Politiker der Vereinigten Staaten, glaubte an die Lehren der Blavatzky, und auch Roosevelt selbst waren, wie wir noch sehen werden, theosophische Gedanken keineswegs fremd.

      Nur Deutschland ging einen Sonderweg. Rudolf Steiner, der dortige Vorsitzende der theosophischen Gesellschaft, verließ diese 1912, nahm die große Mehrheit ihrer Mitglieder mit sich und gründete die anthroposophische Gesellschaft.

      Helena Blavatzky wurde 1831 als Tochter des russischen Obersten Peter Hahn von Rottenstein und seiner Ehefrau Helena im damaligen Jekaterinoslaw, dem heutigen Dnjepropetrowsk, in der Ukraine geboren. Ihr Vater stammte aus einer mecklenburgischen Adelsfamilie, über die Mutter war sie mit dem Architekten der russischen Industrialisierung, dem berühmten Finanzminister Sergej Witte, sowie der Zarenfamilie selbst verwandt.

      Die junge Helena wird von ihren Biografen übereinstimmend als störrisch und unzugänglich beschrieben. Sie soll schon früh ausgeprägte mediale Fähigkeiten gehabt haben und ließ in ihrer Umgebung Spukgestalten auftauchen. Mehrmals wurde sie von ihren Verwandten dem Exorzismus unterworfen, was »sicherlich der Psyche ihrer Tochter nicht gerade dienlich war«, wie ein deutscher Biograf anmerkt.98

      Mit 17 Jahren verheiratete man sie an den 60-jährigen General und Staatsrat Blavatzky. Gerade einmal drei Monate lang hielt sie bei ihm aus, bis sie, als Matrose verkleidet, in die Türkei floh und ein unstetes Wanderleben begann.

      Man weiß relativ wenig über ihr Leben von 1849 bis 1859. Wie auch für spätere Zeiten in ihrem Leben gibt es eine »offizielle« Biografie, die einzig und allein auf ihren Behauptungen gründet, und eine »inoffizielle«, die sich auf das beschränkt, was sich nachweisen lässt.

      Laut ihrer »offiziellen« Biografie soll sie bis zu ihrem 29. Lebensjahr an so verschiedenen Orten wie Kairo, wo ein koptischer Meister sie drei Monate in die Geheimnisse der Magie einweihte, in New Orleans, wo sie sich mit Voodoo beschäftigt habe, und in Indien und Tibet gewesen sein. Eine unglaubliche Reise, wenn man bedenkt, dass Tibet Ausländern verschlossen war und Blavatzky weder damals noch später Tibetisch konnte.

      Russische Briefe und Erinnerungen deuten darauf hin, dass sie in diesen Jahren tatsächlich unterwegs war, aber zusammen mit einem Opernsänger namens Arkadi Metrowitsch und nur innerhalb des russischen