«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»
Der Regen fiel stärker und Lucius cavierte, und Vater cavierte, und Lucius ging wieder durch, und Vater ging wieder durch, und der Regen wurde dunkel und das Gras immer grüner, ein tiefer See, und Lucy machte die Finte mit der Quarta, und er schwamm, ein Fisch mit Rapier, «via!», schrie Vater, und Lucy passierte unter Vaters Klinge davon auf Nimmerwiedersehen, eine Muschel, die versank, und ein Wasservogel, der davonflog, und Vater schrie «via!» und Lucy flog, und er wurde eine Spottdrossel und ein Papagei und ein gefiederter Drache und eine rote Taube, und Vater machte die Primeinladung und stieß mit der Quarta zu und stieß wiederum mit der Quarta zu und fluchte, denn er stieß ins Leere, denn Lucy war ein Vogel, und er stieß abermals ins Leere, denn Lucy war ein Fisch, und dann wurde er eine Wolke und dann wurde er Wasser und dann wurde er Luft, und Vater stieß zu, und Lucy wandelte sich, glatt und geschmeidig wie lauter vollendete Kreisfinten, vom Fisch zur Muschel zum Vogel zum Wasser zur Wolke, wie Proteus, der Meergott, der die Gestalten wechselt wie das Kleid, den keiner zu halten vermag, denn seit Lucius Lawes so schrecklich gewachsen war, wollte er werden wie Proteus und längst nicht mehr werden wie Vater.
Lucius erwachte. Er fror. Das Bettzeug war klamm. Er schloss die Augen und versuchte zu verschwinden. Er versuchte das öfters. Gelungen war es ihm noch nie. Statt zu verschwinden, stahl sich der Earl of Fearnall leise aus Bett und Zimmer.
Er hatte nichts an. Er fand ein Hemd in seinem Ankleidezimmer, keine Hose, keinen Morgenmantel, nur zwei Strümpfe. Irgendwo gedämpfte Stimmen, Personal vielleicht, oder die Orangenfrau, oder der Mann mit den Spitzen, der jeden Morgen kam, oder sogar Besuch – Lucius rannte nackt von Zimmer zu Zimmer, bog ab, bog wieder ab, fort von den Stimmen, ihn schwindelte, er stolperte über die Schwelle einer Kammer, schlug die Tür zu und kauerte sich in eine Ecke. Hier verwahrte er sein Schwarzpulver. Hierher folgte ihm niemand ohne Befehl. Lucius steckte den Kopf in die zerknitterte Wäsche, die er unterwegs gefunden hatte, kniff die Augen zu und versuchte wieder einzuschlafen.
«In guardia!», schrie Vater. «Quartflankonade und Kreisstoß! Via!»
Lucius entschied sich gegen den Schlaf. Er versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Lucius hatte viel getrunken, mehr als einen verschwommenen Kummer bekam er nicht zu fassen. Der Kummer schien ihm ein Schmerz der Liebe, der Nachhall eines misslungenen Rendezvous. Vielleicht war er bei einer Frau gewesen. Vielleicht war etwas nicht gut gegangen mit dieser Frau. Womöglich hatte Lucius dies oder jenes verwechselt, das Spiel für die eine Freundin mit dem Spiel für die andere, womöglich die Masken vertauscht, vermischt oder irrtümlich abgelegt, eine Verwandlung falsch begonnen. Selten unterliefen Lucius solche Fehler. Manchmal geschah es doch. In vielen Gestalten erschien Lucius Lawes, um seine Freundinnen zu unterhalten. Er kam als Verliebter oder Libertin, als Spieler oder Spielzeug, Verführer oder Verführter, als Philosoph zuweilen, der etwas von Freiheit versteht, als Unschuld vom Lande, die es zu verderben gilt, und auch als Verrückter, dessen Grillen die Sinneslust heilt, und hier und da, in besonderen Fällen, als Beförderer der empirischen Wissenschaft, dem die Liebe nichts anderes ist als ein Experiment zu den Gesetzen von Stoß und Wirkung. Das Repertoire war umfangreich. Eine Verwechslung wäre verzeihlich. Vielleicht hatte Lucius jemanden enttäuscht. Sein Kummer wuchs. Sein Gedächtnis blieb gelähmt. Lucius roch traurig an seiner Schulter. Manchmal belebte ein fremder Duft die Erinnerung, doch heute roch Lucius nur nach Schlaf. Ein Faden war gerissen im farbenreichen Gewebe des Earl of Fearnall und die verlorenen Enden passten nicht mehr zusammen.
Lucius streifte das Hemd über den Kopf. Dann zog er den rechten Strumpf an. Den linken vergaß er, noch während er ihn krempelte. Reglos saß er auf dem kalten Boden, das Hemd um die Schultern, die Arme und alles Weitere nackt, nur das rechte Bein und die rechte Hand jeweils bekleidet mit einem schönen taubenblauen Strumpf. Lucius’ Haar war wirr, seine Miene leer, der Kopf freudlos betrunken vom Wein und vom Träumen. Das gestrige Spiel war vergessen. Ein neues Spiel fiel ihm nicht ein. Und wenn Lucius Lawes kein Spiel einfiel, konnte er sich nicht bewegen.
Allmählich und zunehmend unbehaglich spürte er jenen inwendigen Druck, den er oft empfand, am Morgen vor allem, doch auch sonst in wehrlosen Minuten. Er konnte den Druck nicht benennen; es fühlte sich an, als sei etwas in seinem Körper gefangen, zu viel von etwas, das anschwoll und hinauswollte und den Weg nicht fand. Lucius wünschte, er hätte Brandy, um dieses Gefühl zu betäuben, doch es gab keinen Brandy in dieser Kammer, es gab nur Schwarzpulver und Natron und Soda und Antimon, Lapis Solaris und Lapis Infernalis, Auripigment vielleicht und ein wenig Knallgold, falls noch welches übrig war und nicht schon alles verpufft. Lucius übte sich mitunter in der leuchtenden Chemie. Von Zeit zu Zeit besuchte er eine Sitzung der Royal Society und führte dort Detonationen vor, bebrillt, zerstreut und im mausgrauen Rock. Jetzt stand ihm der Sinn nur nach Brandy. Mühsam zwang er sich aufzustehen. Er fand keinen Brandy. Er fand nur einen Dolch. Den nahm er mit in seine Ecke.
Lucius kannte den Dolch nicht. Er zog ihn aus der Scheide. Er war spitz und scharf, der Griff aus Eisenbändern geflochten wie ein kleiner Käfig, obenauf ein Kreuz. Er sah aus, als gehöre er Sir Lancelot, der damit Bären stach, weil ihm ein Speer zu bequem war. Lucius betrachtete den Dolch lange. Er sah Sir Lancelot reiten durch karstiges Land, ohne Schwert, ohne Rüstung, barhaupt, mit flatterndem Haar, weil er büßte oder prahlte oder vom Wahnsinn geschlagen war, und er hatte nur diesen Dolch, und erst kam ein Wolf, den Sir Lancelot stach, und dann kam ein Eber, den stach er auch, und dann kam ein Bär, ein Drache, ein siebenköpfiger Löwe ... Lucius blinzelte. Er erinnerte sich, der Dolch gehörte dem Schweden, die Herren hatten ihn ihm gestern fortgenommen in Mutter Bushells Hurenhaus.
Dies war das misslungene Spiel. Im Theater mit den Herren, Kleopatra, und ein Handkuss für den König, und dann hinaus in die Nacht. Lucius hatte den Goldrock getragen. Dies war sein Kostüm fürs Theater und für das Spiel namens «die Lustbarkeiten des verwilderten Lords». Er spielte es selten. Es strengte ihn an. Es galt, durch die Stadt zu ziehen, mit den Freunden, die sonst keine Freunde waren, und Unheil anzurichten, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Man musste Steine werfen und Leute erschrecken und mancherlei tun, um die Nachtwächter aufzubringen, bis sie einen mit gesenkter Pike verfolgten, und schließlich, bevor man einkehrte und sich sehr betrank, galt es auch stets, ein Opfer zu finden, das die Freunde prügeln konnten aus diesem oder jenem Grund. Lucius im Goldrock spielte hier meistens den Köder. Gestern hatte er sich als gefallenes Mädchen verkleidet, eine neue Maske, die sich gut anfühlte und ihm wohl auch gut stand. Dann hatten die Gentlemen den gefoppten Kunden verbläut. Die Szene war falsch gewesen. Lucius hatte schlecht gespielt. Der Kunde hatte ebenfalls schlecht gespielt. Der Kunde war kein Kunde gewesen, Lucius war keine Hure gewesen, nur die Freunde hatten getan, was im Libretto stand, gelacht, geschlagen, getreten. Ich mag Euch. Lieber Herr. Nennt mich Lucy. «Gottverdammt, süßer Jesus», flüsterte Lucius, «die schwarze Pest soll mich fressen!»
Er drehte den Dolch des Schweden in den Händen. Er strich über die Schärfe. Er befühlte das kleine Kreuz. Ihr habt mein Herz entflammt. So sagt man doch in den Romanen? Lucius berührte die Klinge vorsichtig mit den Lippen. Der Druck in seinem Körper nahm zu. Er könnte nach einem Arzt schicken. Dazu müsste er rufen. Lucius konnte nicht rufen, und er sah auch den Nutzen nicht ein. Der Arzt würde ihm Senneswasser geben und Ratschläge und vielleicht eine Ader schlagen. Er würde Patient sein müssen, um mit dem Arzt zu sprechen. Eben war er kein Patient. Er war gar nichts, nackt und benommen, ein Wesen namens Lucy, das es eigentlich nicht gab. Es vermochte nicht viel, das Wesen namens Lucy. Eine Ader zu schlagen verstand es jedoch wohl.
Lucy fand eine Küvette und trug sie in seine Ecke. Dann löste er den Strumpf von der Rechten und band damit den linken Arm ab. Seine Adern traten schön hervor, oft geschlagene Adern, stets hinlänglich verheilt. Er nahm den Dolch des Schweden, machte einen Schnitt und lockerte