Jonas Moström
Herzversagen - Ein Schweden-Krimi
Aus dem Schwedischen von Christine Heinzius
Saga
Herzversagen - Ein Schweden-Krimi ÜbersetztChristine Heinzius Original Dödens pendelCopyright © 2004, 2019 Jonas Moström und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344011
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Für meine Familie
Sieh eine Welt in einem Körnchen Sand und einen Himmel in der wilden Blume, greif das Unendliche mit deiner Hand und fühle Ewigkeit in einer Stunde.
William Blake
Es gibt nicht viele Wahrheiten, derer sich das Herz sicher sein kann.
Albert Camus
Kapitel eins
Die letzten zehn Atemzüge im Leben von Gerd Ekstedt waren friedlich.
Sie träumte von ihrem Geburtstag, sie wurde fünf. Die ersten Strahlen der Morgendämmerung wanderten über das Dach des Stalls. Sie war auf dem Weg zur Außentoilette. Das Gras war feucht, und ihre Füße waren eiskalt. Ein paar Brennnesseln strichen leicht über ihre Fesseln. Sie ging schneller.
Er stand am Fußende des Bettes und beobachtete sie. Gerd Ekstedt sah ohne ihr Gebiss viel älter aus, das Gesicht war ganz eingesunken und auffallend blass. Ignorierte man die zwei langen Haare, die sich bei jedem keuchenden Atemzug auf ihrer Oberlippe bewegten, konnte man glauben, sie sei bereits tot. Ihre knotigen Hände lagen auf der Decke. Unter der dünnen Haut traten deutlich bläuliche Adern hervor.
Er sah sich um. Das Zimmer war klein und rechteckig. An den Wänden standen massive Möbel aus dunklem Holz. Auf einem Schreibtisch rechts neben dem Bett waren Familienporträts aufgereiht. Darüber hing ein hölzernes Kreuz. Die Luft roch abgestanden und schlecht. Er atmete durch die Nase und machte dabei so kleine Atemzüge wie möglich, versuchte, die Menge der Partikel, die die Lunge erreichten, zu minimieren. Den Geruch anderer Menschen konnte er nur schwer ertragen, er war aufdringlich, und ihm wurde oft übel davon. Es ekelte ihn, als er sah, wie sich die Haare auf der Oberlippe der Frau beim seufzenden Ausatmen noch einmal bewegten.
Ich muss mich konzentrieren, dachte er und öffnete die Tasche. Alles befand sich am richtigen Platz, nichts hatte sich verändert. Ordnung war eine der Voraussetzungen für das Leben. Und für den Tod. Es fiel ihm leicht zu strukturieren, alles in einem größeren Zusammenhang zu sehen.
Ein abruptes Geräusch unterbrach seinen Gedankengang. Hinter seinem Rücken raschelte etwas. Er drehte sich um. Eine große Wanduhr mit einem vergoldeten Adler auf der Spitze schlug drei Mal. Lautlos duckte er sich hinter das Fußende des Bettes und behielt die ganze Zeit Gerd Ekstedt im Blick. Sie schlief tief und ließ sich nicht stören. Er richtete sich auf, sah auf seine Armbanduhr und merkte, dass die Wanduhr eine Viertelstunde vorging. Einen Moment brachte ihn das aus dem Gleichgewicht und ärgerte ihn. Er wusste, dass seine eigene Uhr auf die Sekunde genau ging. Es galt, dem Plan zu folgen und keine Ablenkungen zuzulassen. Er sah auf seine Hände, die ruhig an seiner Seite lagen, ohne Anzeichen von Nervosität.
Der Tod trat genau zum richtigen Zeitpunkt ein. Als der Akt vorüber war, schloss er die Augen und wartete eine Minute, zählte dabei die Sekunden. Er fühlte sich frei, die Fesseln waren gekappt.
Der erste Dominostein war angestoßen, alles Weitere käme von selbst. Alles stimmte bis ins kleinste Detail.
Die Zeit, der Ort und die Bewegung.
Draußen herrschte immer noch eine angenehme Dunkelheit, es war windstill und kühl. Nach ein paar Schritten auf dem Kiesweg drehte er sich um. Die Fassade des Pfarrhauses strahlte im Mondlicht weiß und kalt. Ein Igel lief über den Hof. Er sog die frische Luft in die Lungen und ging weiter vom Haus fort. Niemand würde je vermuten, dass Gerd Ekstedt eines unnatürlichen Todes gestorben war. Er lächelte leicht und spürte den Stolz wie einen Pfeiler in seiner Brust.
Es war Dienstag, der 16. Mai 2000.
Kapitel zwei
Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends kam der Frühling Ende Mai nach Sundsvall.
Er kam ein wenig zögernd, wie ein schüchterner Gast. Zum ersten Mal seit Ende August wärmten die Sonnenstrahlen, und aus den Bäumen, die mitten im Stadtzentrum angepflanzt waren, hörte man Vogelgezwitscher. Kriminalkommissar Johan Axberg trug seine schwarze Lederjacke über der Schulter und ging im Menschengewimmel in westlicher Richtung zum Polizeirevier. Das Licht blendete ihn, und der Kopf tat ihm weh. Die Ausschweifungen am Samstagabend hatten deutliche Spuren hinterlassen. Er kannte nicht einmal den Namen der Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte. Wieder einmal hatte die Sehnsucht eines Augenblicks Konsequenzen gehabt, die er am nächsten Tag bereute. Ein Liebesspiel mit der Betonung auf Spiel. Er hatte das Gefühl, ein Wochenendabonnent einzelner Nummern von unterschiedlicher Qualität zu sein. Und als solcher musste man natürlich die Leere und die ewigen Fragen beim Aufwachen aushalten.
Er kämpfte sich mühsam im Zickzack voran und grüßte flüchtig die bekannten Gesichter, die an ihm vorbeihuschten. Als er aus dem Augenwinkel einen Kollegen aus der Technik näher kommen sah, starrte Axberg stur vor sich hin und ging vorbei. Das, was er sich im Moment am allerweningsten wünschte, waren allgemeine Höflichkeitsphrasen und Kommentare über das schöne Wetter.
Am Ende der Fußgängerzone war das Gedrängel vorbei. Die Menschen waren wie fortgeweht. Nur ein Mann mit einem Hund ging schnell auf der anderen Seite des Rondells vorbei, jenseits der Autos, die in einem konstanten Verkehrsstrom vorüberrauschten. Axberg lenkte seine Schritte in Richtung der Storgata.
Das Polizeirevier stand noch so da, wie er es verlassen hatte, stumm und braun, still und langweilig. Die Sonne spiegelte sich in der Fassade, ohne jedoch das Gebäude einladender erscheinen zu lassen. Axberg überquerte den Parkplatz hinter dem Gebäude und betrat es durch den Personaleingang. Auf dem Schreibtisch kämpften drei halb leergetrunkene Kaffeetassen gegen die Übermacht von Papierstapeln, Ordnern, einer Tasche mit Sportbekleidung und seinem Laptop um einen Platz. Er stellte die Tasche fort und die Tassen in den Personalraum, dann trank er lange direkt aus dem Wasserhahn, und das Kopfweh ließ ein wenig nach. Er warf einen Blick in den Wandspiegel. Die Bartstoppeln waren deutlich zu sehen, obwohl er sich erst gestern Abend vor dem Kneipenbesuch das letzte Mal rasiert hatte.
Er kehrte dem deprimierenden Anblick den Rücken zu und ging in sein Büro zurück. Jetzt lagen noch die schon Monate alte Ermittlung wegen Drogenhandels im Stadtzentrum und ein weiterer Fall von häuslicher Gewalt auf dem Schreibtisch. Axberg wünschte sich einen Augenblick lang, dass er auch diese Papierstapel wegräumen, sie jemand anderem auf den Schreibtisch legen und dann ganz von vorn anfangen könnte. Er zündete eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster. Der Mann mit dem Hund ging an der Pizzeria auf der anderen Straßenseite vorbei und grüßte Nikos, der dort an einem seiner eigenen Tische saß und sich sonnte.
Nikos’ Pizzeria befand sich ganz unten in einem der fünf Hochhäuser auf der anderen Seite der Storgata. Das Essen dort war ausgezeichnet. Axberg hatte die Speisekarte schon mehrmals rauf- und runtergegessen, ohne ihrer überdrüssig zu werden.
Er ließ seinen Blick über die fünf schmutzig gelben Fassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Ohne diese Monumente einer misslungenen Architektur könnte ich bis zum Fluss und dem Park sehen, dachte er und blies eine Rauchwolke gegen die Fensterscheibe. Dadurch wurde die Sicht für ein paar Sekunden noch schlechter. Ich mauere mich hier in mein eigenes Gefängnis ein, grübelte er weiter. Ich isoliere mich von der Welt, konzentriere mich auf meine Arbeit.
Axberg