Der Moloch. Jakob Wassermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jakob Wassermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711488287
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damals phantastische Pläne gefasst. Ein Ideal schwebte ihm vor: ein von der Gesellschaft losgelöstes Weib, innerlich frei und kräftig, unverblendet und natürlich, das er für sich, für ein von der Gesellschaft losgelöstes Leben auferziehen wollte. Seitdem waren acht Jahre verflossen, und er sah auf sein ehemaliges leichtgläubiges Ich etwas gelangweilt herab. Beate selbst fand die gleichmütige Gesinnung bequem. Wer nicht dankbar zu sein braucht, ist wenigstens ehrlich; sie schäfte den Beschützer, denn sie wusste, was sie an ihm hatte, und war zutraulich gegen ihn.

      Als Doktor Hanka in Podolin ankam, stand die Sonne schon tief im Westen. Harzgeruch würzte die Luft, Bauern gingen vorbei und grüssten. Am Rain weideten Kühe und blickten mit Ruhe und Missbilligung auf den städtischen Ankömmling.

      Agnes und Beate waren nicht zu Hause. Hanka erfuhr, dass seine Schwester beim Pfarrer, Beate man wisse nicht wo sei. Damit gab er sich zufrieden, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, rauchte, schlug die langen Beine übereinander und wartete. Die Stille und der grosse Himmel, dessen Anblick in solchem Umfang ihm ungewöhnlich war, liessen ihn seine anfängliche Verdriesslichkeit über den Landausflug vergessen.

      Während er noch in Nachdenken versunken war, es fing schon an zu dämmern, klang ein überraschtes Ach an seine Ohren. Beate stand hinter ihm, und mit ihr war Maxim Specht gekommen. Beate, indem sie eine ungeschickte Tanzstundenhöflichkeit annahm, machte die beiden Männer miteinander bekannt. Der Lehrer und Beate sahen belustigt und aufgeräumt aus. Mit offenbarem Vergnügen an seinem Talent, Erlebtes wiederzugeben, erzählte Specht, dass sie auf der Lomnitzer Strasse Arnold Ansorge begegnet seien und sich gut dabei unterhalten hätten.

      „Er fragte, ob ich schon einen Liebhaber hätte“, platte Beate lachend heraus.

      „Nicht was er sagt, ist so amüsant,“ erklärte Specht, „sondern wie er zuhört, wie er verwundert ist, wie er jedes Wort bedenkt. Er ist nicht dumm.“

      „Wer ist Arnold Ansorge?“ fragte Hanka kühl, dem die Art Spechts nicht sympathisch war. Indes kam auch Agnes Hanka. Bruder und Schwester begrüssten einander herzlich, Alexander mit der ihm eigenen Gravität und spöttischen Zurückhaltung, Agnes mit einem Ausdruck unbegrenzter Hochachtung vor dem Bruder. Da sie schwerhörig war, redete sie wenig, aus Furcht, misszuverstehen, und aus noch grösserer Furcht, den zu bemühen, mit dem sie sich unterhielt.

      Alle vier gingen ins Haus. Specht verabschiedete sich bald. Sein Taktgefühl sagte ihm, dass er übers flüssig, und seine Empfindlichkeit, dass Hansa nicht zufrieden sei mit der Anwesenheit eines Fremden. Als Specht gegangen und Agnes in der Küche beschäftigt war, erkundigte sich Hanka bei Beate nach dem Lehrer.

      Beate blickte den umherstolzierenden Frager mit damenhafter Nachlässigkeit an. Sie hatte die Hände über den Knien verschränkt, sass vorgebeugt und trippelte leise mit den Fussspitzen. Sie begann von Specht zu schwärmen, der arm sei, aber nach ihrer Überzeugung, es zu etwas Grossem bringen würde. Nur die Not habe ihn hierher verschlagen, bald wolle er die Schulmeisterei an den Nagel hängen. „Er ist ein Sozialist,“ fuhr sie flüsternd fort, „aber das sag’ ich dir nur im Vertrauen, es soll Geheimnis bleiben.“

      Hanka blieb mit gespreizten Beinen vor ihr stehen, wiegte sich in den Hüften, schmunzelte gutmütig, und um seinen Mund zuckte die Ironie wie in kleinen Schlänglein. Sogar in den Bewegungen seines hageren Körpers drückte sich Wohlwollen und Spott aus. Zum erstenmal heute sah er Beate voll und deutlich an; sie gefiel ihm, besonders behagten ihm die schmalen, schwarzen Linien der Brauen über den perlmutterglänzenden Augen. Darauf erblickte er sein eigenes Bild, denn hinter dem dunklen Kopf des Mädchens hing der Spiegel. Nie glaubte er Hässlicheres gesehen zu haben, eine dicke, lange Nase, eine niedere Stirn; ein blasses Mephistogesicht. Bestürzt wandte er sich ab. „Wir haben uns ja schon zwei Jahre lang nicht gesehen“, sagte er. „Wie gehts dir denn, Beate? Einmal schrieb mir Agnes, du hättest dich fortgestohlen, um zu tanzen. Wie verhält sich das?“

      Seine vor Fülle vibrierende Stimme mit den tiefen O-Lauten erregte Beates Lachlust. „Es macht mir jetzt gar keine Freude mehr, zu tanzen“, log sie und kettete gleich eine zweite Lüge bequem an: „Ich lese nämlich sehr viel.“

      „Hm—m, Herrn Spechts Einfluss“, sagte Hanka mit hölzerner Würde. Zugleich sah er im Geist den jungen Lehrer mit dem gutrasierten Gesicht und dem flinken Benehmen.

      Die Fenster waren offen, die fühle Herbstluft strich herein, die Lampe brannte freundlich, und altvertraute Bilder schauten von der Wand. Beate nahm fleissigtuend einen Strickstrumpf, und Agnes steckte den vom Herdfeuer erhitzten Kopf durch die Türspalte, um zu erfahren, ob Alexander auch den richtigen Hunger habe. Hanka stellte allerlei Betrachtungen über das Landleben an, rauchte schweigend seine Zigarette und sandte bisweilen einen kurzen Blick nach Beate.

      Agnes trug zu essen auf, wie für eine Soldatenkompanie. Dabei entschuldigte sie sich, dass sie dies oder jenes nicht habe bekommen können. Beate reichte Hanka eine Schüssel um die andere, so dass er sich in eine Art Betäubung hineinass. Er schob die Lippen vor, machte eine Schnauze, drehte den Hals wie eine Ente im Wasser und sagte, es tue ihm leid, dass er morgen schon wieder abreisen müsse. Beate wiederholte es lauter für Agnes, und diese sah ihn vorwurfsvoll an.

      Das junge Mädchen ging bald schlafen, und die Geschwister hatten eine ernsthafte Unterredung. Mitten darin verlor sich Hankas Geist in die Breite und spielte mit den lichten Gestalten eines Traumzustandes. Oben am Haus öffnete sich ein Fenster. Beates Stimme sang ein Lied, das sie von den Tschechinnen gelernt hatte.

      Kudy, kudy, vede cestička

      Pro mého Jenička . . .

      Der Liebste ist zwar in die Ferne gegangen, bedeutet es, um sich eine Reiche zu suchen, aber das kann nicht hindern, ihn noch weiter zu lieben.

      Sechstes Kapitel

      Da in der Nacht leichter Frost eingetreten war, umhüllte Arnold am Morgen die Fruchtstöcke für den Winter mit Stroh. Salscha half ihm, trug das Stroh aus der Scheune und legte es in lange Bündel. Sie war mürrisch und traurig und suchte Arnold durch Gleichgültigkeit aufmerksam zu machen. Er stand auf der Leiter, und während er den Arm hinunterstreckte, um ein Bündel zu ergreifen, begegnete er Salschas Blicken. Die Polin wurde blass, zog die Lippen von den Zähnen zurück und stiess einen leisen Pfiff aus. Eine Sekunde lang stand sie noch schweigend, dann kehrte sie um, ging ins Haus, trat entschlossenen Schrittes vor Frau Ansorge hin mit der Miene eines Menschen, der endlich einmal viel zu sagen hat. Frau Ansorge legte die Stickerei auf den Schoss und lächelte Salscha entgegen. Dadurch wurde das Mädchen um alle Fassung gebracht, sie hielt den nackten Arm vor die Augen und fing an zu schluchzen. Das Lächeln auf Frau Ansorges Lippen nahm nacheinander jeden Ausdruck der Frauenhaftigkeit an: Mitleid, Spott, Ratlosigkeit und leichte Geringschätzung; dahinter gleich einen feinen Schimmer der Freude über den, der solche Kränkung zufügen konnte. Sie stand auf, räumte ihre Arbeit beiseite, legte beide Hände auf die Schulter der Magd und sagte: „Das vergeht schon, Salscha. Gott hat genug andere für dich erschaffen. Sei nur stille jetzt, heut ist Kirmes, ich schenk’ dir einen neuen Unterrock.“

      Arnold war von der Leiter gestiegen. Gleichmütig stiess er mit dem Fuss das Stroh aus dem Weg und wandte sich zum Gartentor, da er dort einen Mann stehen sah, der ein junges Mädchen an der Hand führte. Als er näher kam, erkannte er Elasser, den Hausierer. Ängstlich und demütig entblösste der Jude das kahle Haupt und fragte Arnold, ob er Zeugenschaft vor Gericht ablegen wolle gegen Uravar. Trotz seiner Ehrerbietung war er kurz, trotz der süssen Freundlichkeit war in seinen Mienen zu lesen, dass es für den Gebetenen keinen Ausweg gab, als zuzusagen, wenn es so weit kam. Arnold dachte nicht an anderes. Er blickte das Mädchen an, das Elsasser mit sich führte, und der Gegensatz, in dem die winzige Gestalt und die frühreifen Züge standen, erschreckte ihn. „Sag’ dem Herrn Dank, Jutta“, murmelte Elasser und schüttelte den Arm des Mädchens. Die Kleine betrachtete Arnold mit einem prüfenden und furchtsamen Seitenblick. Sie war dreizehn bis vierzehn Jahre alt, und mit ihren schwärmerischen Augen schien sie ermüdet von den Lasten der Generationen, die gleichsam das natürliche Wachstum ihrer Gestalt verhindert hatten.

      Am Nachmittag ging Arnold ins Dorf. Gassen und Platz waren vom Kirchweihdunst erfüllt. Aus der ganzen Umgegend waren