Schiller zögerte. Er räusperte sich. »Nadine …«, sagte er. »Ich habe ein Problem …«
Sie lachte. »Ich verstehe schon«, sagte sie. »Du hast keine Lust, mit mir nach Frankreich zu fliegen. Oper magst du auch nicht, stimmt’s? Wen hast du zu einem Verbrechen angestiftet?«
Er musste unwillkürlich lächeln. »Eine Rumänin, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, die Therese bei sich aufgenommen hat, ist verschwunden, und dann haben wir die verkohlte Leiche einer Frau in einem leeren Haus in Weidenpesch gefunden.«
»Also«, sagte Nadine nun ernster, »der Platz neben mir wird frei bleiben. Aber ich möchte dich noch sehen, bevor ich abfliege.«
»Ich kümmere mich um diese Rumänin«, sagte Schiller, bevor er wieder fuhr. »Es ist nicht mehr nötig, dass du in der Gegend herumläufst und sie suchst.«
»Sie hat einen Namen – sie heißt Julika«, entgegnete Therese, »und sollte ich zufällig am Bahnhof sein, werde ich mich trotzdem umhören, ganz bestimmt. Aber auf jeden Fall werde ich im Dom eine Kerze für sie aufstellen. Und für sie beten. Dass ihr nichts passiert ist.«
Schiller küsste sie zum Abschied auf die Wange. Es war hoffnungslos: In dieser alten Frau würde bis zu ihrem letzten Atemzug ein störrisches Mädchen stecken, das sich von niemandem etwas sagen ließ. Gewiss würde sie, keine fünf Minuten nachdem er ihren Bungalow verlassen hatte, in die nächste Tram steigen, um zum Bahnhof zu fahren und diese Julika zu suchen.
Vom Auto aus rief er Nele im Präsidium an. Gab es neue Hinweise zu der Leiche?
»Die Kriminaltechnik ist immer noch in der Siedlung. Kameras oder so etwas gibt es da leider nicht. Auch in der Gegend hat niemand etwas mitbekommen. Allerdings auch kein Wunder. Ist ja alles verlassen da – das letzte der sechs Häuser war bis vor zwei Jahren bewohnt«, erklärte Nele. »Die Siedlung heißt übrigens Zigeunersiedlung, weil die Stadt die Häuser Ende der siebziger Jahre errichtet hat, um dort Sinti- und Romafamilien anzusiedeln.«
»Das ist bestimmt super gelungen«, erwiderte Schiller. »Da ist nichts in der Nähe, kein Laden, keine Kneipe, nicht einmal eine Bushaltestelle. Und der Name ›Zigeunersiedlung‹ spricht ja auch für sich.«
Seine Laune hatte sich wieder um etliche Grad abgekühlt. Eigentlich sollte er nun in seiner Wohnung sitzen und seine Reisetasche packen. Er unterbrach die Verbindung mit einem kurzen Gruß und dem Versprechen, später noch im Präsidium vorbeizukommen, obschon er es in Wahrheit nicht vorhatte.
Birtes Alfa stand auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin. Eine Frau von etwa vierzig Jahren öffnete ihm. Sie war die neue Rechtsmedizinerin, seit Almut Schwäbe, mit der er eine kurze, unfreundliche Affäre gehabt hatte, nach Frankfurt gegangen war.
»Sie sind von der Kripo?«, fragte die Frau ihn, ohne sich selbst vorzustellen. Er nickte. »Ihre Kollegin führt gerade ein Telefonat. Ich bin eben dabei zu diktieren, was ich bereits herausgefunden habe. Ich habe aber lediglich die erste oberflächliche Leichenschau hinter mir. Viel können Sie da nicht erwarten.«
Die Rechtsmedizinerin führte ihn in ein winziges, dunkles Büro. Sie setzte sich, deutete auf einen Stuhl vor sich und nahm ein Diktiergerät in die Hand. Schiller sah ein Foto von ihr auf dem mit Papieren übersäten Schreibtisch. Da saß sie mit längeren, deutlich rötlicheren Haaren auf einem Pferd. Sie beugte sich zu einem älteren Mann hinab, der ihr offenbar eine Medaille überreichte.
»Bei der Toten handelt es sich vermutlich um eine fünfundzwanzig- bis dreißigjährige Frau, die etwa fünfundfünfzig Kilogramm schwer und einen Meter siebzig groß war. Der Zahnstatus deutet nicht darauf hin, dass die Person sich im Milieu der Obdachlosen aufgehalten hat. Gepflegte Zähne, keine Lücken. Die Person ist vermutlich komplett bekleidet gewesen, als sie mit einem Brandbeschleuniger übergossen und angezündet wurde. Überall außer am linken Bein sind Brandverletzungen dritten Grades entstanden. Ob das die Todesursache ist, lässt sich aber …«
Die Rechtsmedizinerin unterbrach ihr Diktat, als Birte hereinkam.
»Frau Dr. Grams«, sagte sie. »Mein Kollege von der Kriminaltechnik hat mich soeben angerufen. Ein leerer Kanister Benzin ist in dem Haus gefunden worden.« Dann wanderte ihr Blick zu Schiller. »Und noch etwas. Ein recht neuwertiger Schal mit einem Symbol. Eine Krone auf einem roten Schild und zwei gekreuzten Schwertern. Das Wappen von Sibiu, einer Stadt in Rumänien.«
5
Warum war die Frauenleiche angezündet worden? Die Antwort konnte nur lauten: um die Identifizierung der Frau zu verhindern. Nur hatte der Täter den Schal übersehen, den die Frau getragen hatte. Sibiu hatte früher Hermannstadt geheißen. Viele Deutsche hatten sich dort angesiedelt. Also war es möglich, dass sie die verschwundene Julika tatsächlich gefunden hatten und Thereses Sorgen begründet gewesen waren. Jan hatte versprochen, das alte Nokia orten zu lassen, aber bisher war nichts dabei herausgekommen.
Birte spürte, wie erschöpft sie war, als sie nach Hause kam. Sie würde sofort duschen müssen, um den Brandgeruch abzuwaschen. Was musste das für ein Bild sein, einen lebendigen Menschen, der vor einem lag, mit Benzin zu übergießen, als wäre er ein Stück Holz? Bei dem Gedanken erschauderte sie.
Es war kurz vor Mitternacht. Max war auf dem Sofa eingeschlafen, zu seinen Füßen aufgeschlagene Kataloge. Hawaii – die Strände, die Bars und Cafés. Sie betrachtete die Aufnahmen mit einem gewissen Unbehagen. Eigentlich hatte sie nicht nach Hawaii fliegen wollen, aber Max meinte, es müsse sein – nur so könne er endlich mit seinem Unfall und der Amputation seines Beines abschließen.
Sie setzte sich an den Esstisch und klappte ihren Laptop auf. Noch stand nichts von dem Fund der Frauenleiche im Internet, doch lange würde man die Nachricht nicht zurückhalten können.
Als Nächstes gab sie »rumänische Mädchen« ein. Sie landete auf mehreren Seiten, auf denen Frauenbekanntschaften offeriert wurden. Rumänische Mädchen seien attraktiv, zärtlich, treu und nicht sehr anspruchsvoll. Mindestens zehn Anbieter präsentierten dazu im Netz ihre Dienste mit aufreizenden Fotos junger, stark geschminkter Frauen.
War diese Julika deshalb nach Köln gelockt worden – um verheiratet zu werden oder als Prostituierte zu arbeiten? Vermutlich. Aber wie passte da ein Mord ins Bild?
Birte klappte ihren Laptop zu. Die Fotos dieser Mädchen, die sich leicht bekleidet und in lasziven Posen anboten, deprimierten sie.
Max schlug kurz die Augen auf. »Bist du wieder da?«, flüsterte er.
»Ja«, erwiderte sie, aber im nächsten Moment war er schon wieder eingeschlafen.
Sie ging ins Bad und duschte so lange, bis sie meinte, den Brandgeruch völlig abgewaschen zu haben, dann kroch sie zu Max ins Bett, der im Schlaf sanft die Hand um sie legte. Doch bereits nach drei Stunden schreckte sie auf. Es war halb vier. Sie war hellwach. Max lag neben ihr und atmete ruhig ein und aus. Die verbrannte Leiche, die wie eine Mumie aussah, stand ihr vor Augen. Welch eine grausame Tat! In der Küche kochte sie sich einen Kaffee und zog sich dann fast geräuschlos an. Sie würde nicht mehr einschlafen können. Da konnte sie ebenso gut ins Präsidium fahren.
Auf der Straße war nur der Zeitungsbote zu sehen – ein alter grauhaariger Italiener, mit dem sie schon einige Male gesprochen hatte, als sie spät von einem Einsatz zurückgekehrt war, und der sie freundlich grüßte.
Statt sofort nach Kalk ins Präsidium zu fahren, rollte sie langsam an den Ringen entlang. Zwei Gruppen von Männern, die wahrscheinlich gerade aus einem der Clubs kamen, zogen die Straße entlang. Weitere Passanten waren nicht zu sehen. Wie viele junge Mädchen waren in den letzten Monaten mit falschen Versprechungen nach Köln gelockt worden?, fragte sie sich. Und wo kamen all diese Mädchen unter? Ungefähr fünfzehnhundert registrierte Prostituierte gab es in Köln, die Dunkelziffer kannte niemand. In der letzten Zeit hatte die Polizei sich um Shishabars, um die Salafistenszene und Rockerbanden gekümmert; um illegale Prostitution war es kaum mehr gegangen.
Birte