Karin war sprachlos, mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Ein leises Grauen wuchs in ihr und die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. »Bist du dir sicher?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Mario nickte. Sein Blick wurde so eisig wie das Grab, in dem die Leiche des Anwalts bald ruhen würde. »Angst macht mir auch der Umstand, dass ich keinerlei Abwehrverletzungen an den Händen von Weise gefunden habe. Immerhin war er kräftig und 1,82 Meter groß. Durchtrainierte Männer stehen nicht starr vor Angst da und warten demütig auf den Todesstoß, sie wehren sich.«
Nach diesen Worten stieß Karin die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Das mulmige Gefühl, das sie bereits in der Wohnung des Anwalts befallen hatte, vertiefte sich urplötzlich. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihren Instinkt an, der ihr deutlich zu verstehen gab, dass sie mit ihrem Gefühl in der Wohnung des Opfers richtig gelegen hatte. Der Fall hielt viel Schlimmeres für sie bereit, als sie je zu denken gewagt hätte. »Es könnte also sein, dass der Mord nicht zufällig geschehen ist. Eventuell eine sorgfältig geplante Racheaktion?«, fragte sie mit einem letzten Rest kläglicher Hoffnung.
»Möglich.« Der Doktor machte eine vage Handbewegung. »Bei einem derart grausamen Mord kommen mehrere Motive infrage.« Er musterte Karin mit einem besorgten Blick. »Aber das glaube ich nicht. Der Täter ist ein eiskalter Killer und wenn ich richtig liege, macht ihm das Töten Spaß.«
Zurück auf der Straße, zückte Karin ihr Handy und wählte Sandras Nummer.
Mailbox.
Sicher ist sie in die Kantine marschiert, um sich ein Stück Kuchen zu holen, und natürlich hat sie ihr Telefon auf dem Schreibtisch liegen lassen. Über Karins Gesicht zog ein Lächeln, sie kannte den grenzenlosen Appetit ihrer Freundin nur zu gut.
Als Nächstes probierte sie es bei Heidelinde. Die Oberkommissarin nahm sofort ab und war hocherfreut über Karins Anruf. Enthusiastisch fasste sie zusammen, was sie über die Geschäftspraktiken des Anwalts herausgefunden hatte.
Der Bericht verschlug Karin den Atem. »Gib Sandra Bescheid. Ich fahre sofort dorthin. Und Heidi, gute Arbeit.«
Mit dieser Wendung hatte Karin nicht im Traum gerechnet. Mit einem Fünkchen Glück konnten sie den Fall noch heute zu den Akten legen.
Mittwoch, 17.30 Uhr
Vom vielen Reden durstig und der mangelhaften Ausbeute deprimiert, bog Oberkommissar Rolf Brückner nach Stunden in die gefühlt tausendste Straße ein. Um seinen Gedanken bei der nervtötenden Befragung der Anwohner wenigstens etwas Sinnvolles zu tun zu geben, versuchte er sich die Gesichter ins Gedächtnis zu rufen, die er aus Weises Spannervideos kannte. Es war ein vergebliches Unterfangen, Weise hatte unzählige Menschen beim Sex gefilmt. Im Schnelldurchlauf waren über 20 Stunden Filmmaterial vor Rolfs Blick dahingerast. Wie Geisterschemen huschten die Bilder in seinem Kopf umher und je mehr er versuchte, sie zu fangen, umso schneller entwischten sie ihm. Wenn ein Opfer des Anwalts vor mir steht, werde ich es schon merken, tröstete er sich und lenkte sich mit den Gedanken an den zurückliegenden Vormittag ab.
Aus Sicherheitsgründen hatte Sandra den Inhalt von Weises USB-Stick nicht ins Netzwerk eingespeist, deshalb hatte sie für jedes Teammitglied ein Duplikat erstellt. Beim Aushändigen betonte sie mit todernster Miene und gefährlich blitzenden Augen, dass der Inhalt topsecret sei. Drohend fügte sie hinzu, dass sich jeder, der sich nicht an diese Vorgabe hielt, in Zukunft nicht einmal mehr den Verkehr regeln dürfte.
Rolf kannte Sandra schon einige Jahre und er traute es ihr durchaus zu, diese Warnung in die Tat umzusetzen.
Wenig später saßen die Kollegen vor ihren Monitoren und betrachteten die Ausbeute von Weises nächtlichen Ausflügen. Entsprechend der persönlichen Anschauung nahm jeder die erzwungene Pornoschau auf seine Weise auf. Jan überspielte seine Verlegenheit mit einem Grinsen. Karin warf wütende Blicke um sich. Sandras Lächeln fror ein und Heidelinde wurde noch stiller als gewöhnlich. Rolf selbst wurde nachdenklich. Er war der festen Meinung, dass Voyeure hinter Gitter gehörten. Die Privatsphäre anständiger Menschen war für ihn schon immer ein heiliges Gut. Schade, dass der Anwalt schon tot war. Rolf hätte ihm die Zeit im Knast, die einem Typ mit dieser Neigung bevorstand, von Herzen gegönnt.
Um Doppelbefragungen zu vermeiden, hatte er Jan zur Seite genommen und mit ihm im Vorfeld die Straßen von Weises Wohnviertel aufgeteilt.
Jetzt setzte er einsam einen Fuß vor den anderen, während ihm der Schweiß in dünnen Bächen über den Rücken lief. Doch auch in diesem Straßenzug waren die Ergebnisse mehr als dürftig. Einige Anwohner waren nicht daheim, die anderen wussten von nichts.
Rolf sah zur Uhr und seufzte tief. Langsam taten ihm die Füße weh.
Der Anblick, der sich ihm beim nächsten Anwesen bot, ließ seine Frustration verwehen wie ein Blütenblatt im Sommerwind. Eine Frau, Rolf schätzte sie Anfang vierzig, bekleidet mit ultrakurzen Shorts und einem Bikini-Oberteil, saß auf der Treppe vor dem Haus und arrangierte Blumen zu Sträußen.
Mit offenem Mund blieb der Oberkommissar am Zaun stehen und versuchte, das wunderschöne Bild zu verarbeiten. Das kann nur eine Fata Morgana sein, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. So gut meint es das Schicksal an diesem miesen Tag nicht mit dir, dass dir so ein schnuckliges Wesen über den Weg läuft. Er kniff die Augen fest zusammen und riss sie wieder auf.
Die Frau saß immer noch da und beobachtete ihn amüsiert. »Wollen Sie zu mir?«
Rolf musste schlucken, dann nickte er eifrig und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. »Kommissar Brückner, Kriminalpolizei. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung kam die Frau in die Höhe. »Das Tor ist offen, kommen Sie rein.« Lächelnd und ohne die geringste Spur von Verlegenheit wies sie auf ihre dreckigen Hände und hielt Rolf ihren Ellbogen entgegen.
Vollkommen überrumpelt drückte Brückner sanft ihren Unterarm und versuchte, die Begehrlichkeit aus seiner Mimik zu verbannen.
»Sie sehen aus, als hätten Sie Durst«, stellte die Gärtnerin mit Bestimmtheit fest. »Machen Sie es sich hinter dem Haus bequem, da wartet eine Sitzecke auf Sie.«
Mit einem wohligen Stöhnen streckte Rolf seine Beine unter den Tisch und lauschte dem Summen der Bienen, die emsig von einer Blüte zur nächsten flogen. Hier auf diesem kleinen Fleckchen Erde schien die Welt noch intakt zu sein. Er selbst verstand nicht viel von Gartengestaltung, hatte sich noch nie dafür interessiert und das Grundstück seiner Eltern war mehr von Pragmatismus als von Schönheitsempfinden geformt. Diese kleine Anlage sah hingegen ganz anders aus. Die Besitzerin, und Rolf zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich dabei um die junge Frau handelte, hatte es verstanden, aus dem kleinen Gelände ein Schmuckstück zu machen. Ein hübsch angelegter Weg mäanderte zwischen Beeten mit Kräutern, Ziergräsern und Blumen entlang.
Rolf genoss das üppige Grün und fühlte ein angenehm warmes Gefühl in seinen Beinen emporsteigen.
Die Rückkehr der hübschen Gärtnerin, die zwei schäumende Weizenbiere auf den Tisch stellte, ließ sein Wohlbefinden ungeahnte Höhen erklimmen.
»Sind alkoholfrei«, erklärte sie und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Rolf bedankte sich, prostete ihr zu und nahm einen gewaltigen Schluck,