Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Jacques Rousseau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837929
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ganze Menschengeschlecht sich einhellig opfern und aus der Welt ein weites Grab machen müsse. Es giebt aber, es giebt Unglückliche, die zu auserlesen sind, um der gemeinen Heerstraße zu folgen, und denen ihre Verzweiflung und ihre bittern Schmerzen der Paß sind, den ihnen die Natur ausstellt; von diesen wäre es ebenso unsinnig, zu glauben, daß ihr Leben ein Gut sei, als von dem Sophisten Possidonius zu leugnen, daß die Gicht, die ihn plagte, ein Uebel sei. Solange es gut für uns ist zu leben, wünschen wir es auch sehr, und nur das Gefühl, daß unser Leiden auf's Höchste gestiegen, kann diese Lust in uns besiegen, denn wir alle haben von Natur eine große Scheu vor dem Tode, und diese Scheu macht, daß wir das Elend unseres Daseins nicht ansehen. Lange erträgt man ein jammervolles, schmerzliches Dasein, bevor man sich entschließt, es aufzugeben; wenn aber einmal der Lebensüberdruß über die Todesfurcht das Uebergewicht bekommen hat, so ist dann augenscheinlich das Leben ein großes Uebel und man kann sich nicht schnell genug davon befreien. Also, wiewohl man nicht mit Genauigkeit den Punkt angeben kann, bei welchem es aufhört, ein Gut zu sein, weiß man wenigstens mit Gewißheit, daß es schon lange ein Uebel ist, bevor es uns so erscheint, und bei jedem Menschen, der bei Sinnen ist, geht das Recht, darauf zu verzichten, der Versuchung dazu weit voran.

      Noch mehr: nachdem sie geleugnet haben, daß das Leben ein Uebel sein könne, um uns das Recht zu rauben, uns davon zu befreien, sagen sie dann wieder, daß es ein Uebel sei, um uns einen Vorwurf daraus zu machen, daß wir es nicht ertragen, Sie behaupten, es sei eine Feigheit, wenn man sich seinen Schmerzen und Leiden entziehe, und immer nur Schwächlinge brächten sich um's Leben. O Rom, Besiegerin der Welt, was für ein Haufe von Schwächlingen hat dir die Herrschaft über sie verschafft! Mögen Arria, Epponina, Lucretia so zu nennen sein: sie waren Frauen. Aber Brutus, aber Cassius, und du, der du mit den Göttern die Ehrfurcht der erstaunten Erde theiltest, großer, göttlicher Cato, du, dessen Bild die Römer mit heiligem Eifer beseelte und die Tyrannen zittern machte, deine hochherzigen Bewunderer dachten nicht, daß eines Tages in dem staubigen Winkel einer Schule schlechte Rhetoren den Beweis liefern würden, daß du nichts warst als ein Feigling, weil du nicht wolltest, daß dem vom Glück gekrönten Verbrechen die Tugend in Ketten Huldigungen darbringe. O Kraft und Größe der modernen Autoren! wie unerschrocken sie sind mit der Feder in der Hand! Aber sage mir doch, kühner und tapferer Held, der du dich muthvoll aus dem Schlachtgetümmel rettest, um noch länger die Pein des Lebens zu ertragen, warum, wenn auf die beredte Hand ein Köhlchen fällt, ziehst du sie so schnell zurück? Wie? Du bist so feig, daß du nicht wagst, die Hitze des Feuers auszuhaltend. Nichts, antwortest du, verpflichtet mich, die Kohle zu ertragen! Und mich, was verpflichtet mich, das Leben zu ertragen? Ist die Erzeugung eines Menschen der Vorsehung saurer geworden als die Erzeugung eines Strohhalmes? Ist nicht Eines wie das Andere gleichermaßen ihr Werk?

      Ohne Zweifel ist es ein Muth, Leiden, die man nicht vermeiden kann, standhaft zu ertragen; aber es wäre nur Verrücktheit, solche freiwillig zu leiden, denen man sich entziehen kann, ohne übel zu thun, und oft ist es ein sehr großes Uebel, Uebel ohne Noth zu dulden. Wer sich nicht von einem schmerzhaften Leben durch einen schnellen Tod zu befreien weiß, gleicht Dem, der lieber eine Wunde giftig werden lassen, als sie dem heilsamen Eisen des Wundarztes anvertrauen will. Komm, verehrungswürdiger Parisot [Wundarzt aus Lyon, ein Ehrenmann, ein guter Bürger, ein zärtlicher, edler Freund, vernachlässigt, vergessen, aber wahrlich nicht von Einem, den er mit seinen Wohlthaten überhäuft hatte. (Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 4. S.7.], nimm mir dieses Bein ab, das mir den Tod zuziehen würde; ich werde zusehen, ohne mit den Augen zu zwinkert, und mich feig schelten lassen von dem muthigen Helden, der das seinige lieber verfaulen läßt, weil er die Operation nicht zu bestehen wagt.

      Es giebt allerdings Pflichten gegen Andere, welche nicht jedem Menschen erlauben, über sich zu verfügen; aber wie viele giebt es dafür, die es ihm gebieten! Möge sich ein Beamter, an dessen Leben das Wohl des Staates hängt, möge sich ein Familienvater, der sich seinen Kindern erhalten muß, möge sich ein zahlungsunfähiger Schuldner, der seine Gläubiger ruiniren würde, der Pflicht opfern um jeden Preis; mögen tausend andere bürgerliche und häusliche Verhältnisse einen braven Mann, der unglücklich ist, zwingen, das Unglück, daß er leben muß, zu ertragen, damit er dem größeren entgehe, ungerecht zu sein: ist es deswegen erlaubt in ganz anderen Fällen aus Kosten einer Schaar von Leidenden ein Leben festzuhalten, das nur noch Dem nützt, der nickt den Muth hat zu sterben? Tödte mich, mein Kind, sagt der alte Wilde zu seinem Sohne, der ihn trägt und unter der Last wankt; die Feinde sind da. Geh und kämpfe an der Seite deiner Brüder; geh, rette deine Kinder, und gieb deinen Vater nicht der Gefahr Preis, lebend in die Hände Derer zu fallen, deren Eltern er fraß. Wenn Hunger, Krankheit, Elend, schlimmere Hausfeinde als alle Wilden, einem verstümmelten Unglücklichen erlauben, in seinem Bette das Brod einer Familie zu verzehren, die kaum erschwingen kann, was sie für sich braucht, warum sollte nicht Der, an dem nichts hängt, den der Himmel verdammt, allein auf der Erde zu leben, dessen unseliges Dasein nichts Gutes schaffen kann, warum sollte der nicht wenigstens das Recht haben, einen Aufenthalt zu verlassen, wo seine Klagen überlästig und seine Leiden nutzlos sind?

      Erwägen Sie diese Bedenken, Milord, nehmen Sie alle diese Gründe zusammen, und Sie werden finden, daß sie auf das einfachste der Naturrechte zurückgehen, welches noch kein vernünftiger Mensch je in Frage gestellt hat. In der That, warum sollte es erlaubt sein, sich von der Gicht zu curiren und nicht vom Leben? Kommt uns nicht beides von der nämlichen Hand? Wenn das Sterben wehe thut, was will das sagen? Ist es ein Vergnügen, Arzeneien zu gebrauchen? Wie viele Leute ziehen nicht den Tod einer Cur vor! Ein Beweis, daß die Natur dem Einen wie dem Anderen widerstrebt. Also zeige man mir doch, woher es mehr erlaubt ist, sich von einem vorübergehenden Uebel mit Hülfe von Heilmitteln zu befreien, als von einem unheilbaren Uebel mit Hülfe des Todes, und woher man weniger strafbar ist, wenn man China gegen das Fieber, als wenn man Opium gegen den Stein gebraucht. Wenn wir den Zweck ansehen, so ist er in beiden Fällen, uns vom Uebelbefinden herzustellen; wenn wir das Mittel ansehen, so ist es in beiden Fällen auf gleiche Weise ein natürliches; wenn wir den Willen des Herrn ansehen, giebt es ein Uebel zu bekämpfen, das nicht er selbst uns zugeschickt hätte? Giebt es einen Schmerz zu lindern, der uns nicht von seiner Hand käme? Wo ist die Grenze, bei welcher seine Macht endet, und der Widerstand erlaubt zu sein anfängt? Ist es uns also nicht erlaubt, den Zustand irgend eines Dinges zu ändern, weil doch Alles so ist, wie er es hat haben wollen? Darf man nichts auf der Welt thun, aus Furcht seine Verordnungen umzustoßen? Oder können wir auch nur, wie wir uns anstellen mögen, je die kleinste derselben umstoßen? Nein, Milord, der Beruf des Menschen ist höher und edler; Gott hat ihm nicht den Geist eingehaucht, damit er regungslos in beständigem Quietismus hinbrüte; er hat ihm vielmehr die Freiheit gegeben, um das Gute zu thun, das Gewissen, um es zu wollen, die Vernunft, um es zu wählen; er hat ihn selbst zum alleinigen Richter seiner Handlungen bestellt; er hat in des Menschen Herz geschrieben: thue, was dir nützt und Keinem schadet. Wenn ich fühle, daß es gut für mich ist, zu sterben, so widerstrebe ich seinem Geheiß, wenn ich darauf bestehe, zu leben; denn dadurch, daß er mir den Tod wünschenswerth macht, schreibt er mir vor, ihn zu suchen.

      Bomston, ich frage Sie, auf Ihre Einsicht und auf Ihre Ehrlichkeit: welche andern Grundsätze über den freiwilligen Tod kann die Vernunft mit Sicherheit aus der Religion ableiten? Wenn die Christen entgegengesetzte aufgestellt haben, so haben sie doch dieselben weder aus den Principien ihrer Religion, noch aus deren alleiniger Richtschnur, nämlich der heiligen Schrift, sondern nur aus den heidnischen Philosophen geschöpft. Lactanz und Augustin, die zuerst diese neue Lehre aufstellten, von der Jesus Christus und die Apostel kein Wort gesagt haben, beriefen sich auf nichts Anderes als das Raisonnement im Phädon, das ich schon bestritten habe, so daß die Gläubigen, die hierin dem Ansehen der Schrift zu folgen meinen, nur dem Ansehen Plato's folgen. In der That, wo findet man in der ganzen Bibel ein Gebot gegen den Selbstmord oder auch nur eine Abmahnung? Und ist es nicht recht seltsam, daß man bei allen Beispielen von Personen, die sich selbst das Leben genommen haben, nie ein Wort des Tadels gegen diese Handlung ausgesprochen findet? Ja, Samson's Selbstmord wird sogar durch ein Wunder bekräftigt, das ihn an seinen Feinden rächt. Würde ein Wunder geschehen sein, um ein Verbrechen zu rechtfertigen? und würde dieser Mann, der seine Stärke verlor, weil er sich von einem Weibe verführen lassen, sie wieder erlangt haben, um eine offenbare Missethat zu begehen? gleich als wollte Gott selbst die Menschen irreführen!

      Du sollst nicht tödten, sagen