»Halt! da kannst du nicht hinunter.«
Ein Knacken, ein leiser Kinderschrei, der seltsam die Stille durchschneidet.
»Halt dich! Halt dich an einem Zweig, ich hole dich schon.«
Halb schleifend, halb rutschend kommt er hinunter, und da auf einem Blätterhaufen in einer Mulde zusammengeweht liegt ein braunes Häufchen. Und wie er mit einer Hand an einem Zweige hängend nach ihr greift, hebt sie ein kalkweißes, erschrockenes Gesicht.
»Da faß die Hand, ich tu dir doch nichts zuleid! Fürchte dich doch nicht. Hast du dir weh getan?«
»Nein;« sehr kläglich, sehr erschrocken kommt's heraus.
»Nun, so gib die Hand!« Sie schüttelt.
»Wohin willst du?« Sie deutet mit dem eingewickelten Köpfchen nach der andern Bergseite hin, wo der Wald steil in starrender Pracht wieder ansteigt.
»Dort geht kein Weg. Woher kommst du?« Keine Antwort. »Gehörst du nach Berklingen?«
»Nein.«
»Nicht? Und die Landessprache kennst du auch nicht, sonst würdest du ›Na‹ sagen.«
Ein fremdes Kind also. Und verlaufen muß es sich haben. Denn im ganzen Wald sind jetzt keine Holzfäller mehr; die haben heut schon Feierabend gemacht und sind zu den kleinen spitzgiebeligen Häusern gegangen, wo die Kinder schon warten, bis der Vater den Tannenbaum in das grüne »Gärtlein« setzt. –
»Hast du zu deinem Vater gewollt?« Das Schütteln ist nun sehr energische Abwehr. »Also gewiß nicht zu dem,« brummt er. Nun läßt er den Zweig los, und mit einigem Straucheln und Gleiten kommt er zu dem Nestchen, wo sich das Kind duckt, als sähe es sich nach einer Fluchtgelegenheit um, und nicht los kann, weil das eisige Dorngeranke der Brombeeren es festhält. Und nun macht sich's mit einem Ruck los, daß die ganze Schleppe mit dem Waldanhängsel abreißt. Aber da hat er sie auch schon erfaßt, und so sehr sie sich sträubt und flattert wie ein Vöglein, das man in der Hand hält, so bringt er sie doch mit vieler Mühe herauf, und nun steht sie zitternd und schneeblaß auf dem Weg. Da greift er in seine Tasche und zieht einen großen rotbackigen Apfel heraus und reicht den als Friedenspfand mit einem guten Lachen hin.
»Da nimm und sage, wohin du willst, so zeig ich dir den Weg, du wunderliches kleines Fetzenmadämchen.« Denn der braune Schal ist ziemlich übel aus den Dornen gekommen. Aber sie will den Apfel nicht, und der wandert wieder in die Tasche zurück. Aber der Apfel, oder vielleicht ein Blick in die blauen Augen mußten doch eine Brücke geschlagen haben.
»Ei woher hast du den feinen Nasenrücken? Und was hat dein linkes Beinchen getan, daß es frieren muß und nur das rechte eine Gamasche hat?«
»Sie gingen nicht zu. Und es ist auch gar nicht kalt.«
Es ist das erste Wort, und sie spricht allerdings nicht die Landessprache.
»Und wohin gehst du?«
»Nirgends hin!«
»So, nirgendshin. Da geh ich nämlich auch hin, dann haben wir einen Weg.«
Und er nickt ihr ermunternd zu, steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert neben ihr her, behält sie aber vorsichtig im Auge, daß sie nicht mehr entwischen kann. Und zögernd folgt sie ihm, als wäre es doch gut, auf dem Weg zum Nirgendwohin-Land einen Gefährten zu haben, eine kleine wunderliche Gestalt in dem zerfetzten Tuch; die Stiefel tragen bis oben hinauf Spuren eisiger und lehmiger Wege; am rechten Bein eine falsch zugeknöpfte Gamasche, am linken keine, dafür aber ein großes Loch im Strumpf, durch das ein weißes Knie schimmert. Und wie er so neben ihr hergeht, steigt ein deutlicher Armeleutegeruch aus dem Schal auf, ein Geruch nach selten gelüfteten Stuben, auf dem Zimmerofen gekochtem Sauerkraut und hundert andern unbestimmbaren Dingen. Aber der Nasenrücken ist sehr fein geformt und fast stolz, die Augen lang mit breiten Lidern, die so zart sind, daß, wenn sie die senkt, die Augensterne durchschimmern.
»Also durchgegangen bist du!«
Sie schreckt zusammen, und ja! steht so deutlich auf dem erhobenen Gesichtchen. Da lacht er wieder sein gutes Lachen.
»Wenn die Leute ins Nirgendsland wollen, sind sie meistens von irgendwoher gekommen, wo es ihnen nicht gefallen hat.« »Und ich geh auch nicht mehr zurück.«
»So arg haben sie dir's gemacht?«
»Nein, nicht arg. Weißt du, das kann man nicht sagen.«
So zutraulich ist sie nun schon geworden. Und eine Weile wandern sie miteinander in dem verzauberten Wald, und er wartet mit dem feinen Gefühl für Kinderseelen, das manche Menschen haben, die wissen, daß man durch Fragen das Kind von seinem Gedankenpfädlein oft nur abirren macht, und daß das Vertrauen am ehesten durch ein freundliches Zuwarten gewonnen wird. Doch ihre Schritte werden immer zögernder und schleppender, und als da am Weg ein Reisighaufen liegt, freilich auch in einem Eiskleid, so setzt sie sich darauf und sagt sehr artig und mit der Feinheit eines gut erzogenen Mägdleins:
»Ich danke sehr, ich bleibe hier.«
»Müde?«
Er setzt sich ihr gegenüber auf einen Steinhaufen und schlägt die langen Beine übereinander: »Ist vielleicht nun der Apfel gefällig, kleines Fräulein?«
In den Augen leuchtet's auf, und eine kleine Hand streckt sich zögernd aus dem Fransengewirr nach dem Apfel aus, und ein feines Freudenrot steigt in ihre Wangen. »Gut ist er.«
Und nun erzählt sie. »Mir hat das Nähröschen einmal auch einen geschenkt und ich habe ihn in mein Bett gesteckt und nachts gegessen, wie alle fort waren. War das nicht lieb von dem Nähröschen? Es hat rote Haare und wohnt in dem kleinen Haus, vor dem im Sommer die hohen roten Blumensäulen stehen, und hat neun Geschwister, und wenn sie abends heimkommt, macht sie denen noch alle Kleider.«
»Ein treffliches Nähröschen! Und wo ist das Häuschen, vor dem im Sommer die Blumensäulen – das sind wohl Malven – stehen?«
»Zuerst kommt ein grünes Feld, darauf sind weiße Sterne und gelbe Krönchen, wenn die Sonne freundlich ist, und dann kommt man an die steilen Bäume, die hinaufstarren und die seufzen.« »So wär's am besten, wir machten uns jetzt auf die Beine und gingen zu dem Nähröschen. Die hat gewiß noch einen Apfel, denn ich habe keinen mehr. Und das ist ein kalter Sitz und das Stiefbein friert.«
Aber sie schüttelt wieder. »Ich will hier bleiben. Ich bin ja sonst den ganzen weiten Weg umsonst gegangen.«
Und nun strahlt das volle süße Kindervertrauen aus den erhobenen, sanften Augen. »Ich will auch nicht mehr zurück und will warten, bis die Nacht kommt, und Hunger habe ich keinen mehr, weil du mir den Apfel gegeben hast.«
»Die Nacht willst du da bleiben und fürchtest dich nicht! Du hast etwas Gutes vor. Weißt du denn nicht, daß die Leute, wenn die große Kälte kommt, einschlafen und nicht mehr aufwachen?«
»Ich werd schon nicht einschlafen. Ich warte ja! Sieh doch die Bäume da am Weg und die weißen Schwertchen und die Krönchen und die silbernen Fransen, und die Perlenschnüre und die Bänder! Warum haben die sich so angezogen? Die warten alle, und daß etwas kommt, das wissen die ganz gut. Und vorher ging ein Reh vorbei, das sah mich an und wußte es auch.«
»Das fühlst du auch, du? Du kleines Seelchen! Wie heißt du denn?«
»Ich habe viele Namen, aber keiner ist der rechte. Und bei Nacht kommt mir, ich wisse den rechten, und am Morgen habe ich ihn wieder vergessen! ›Arme Kleine,‹ sagt mein Vater zu mir. Aber so will ich nicht heißen. Und ich bin fortgegangen: daß es aber der rechte Weihnachtswald ist, habe ich erst gesehen, wie ich drin war.«
Da beugt er sich vor und hebt das Geschöpflein trotz dem strengen Duft des Tuchs auf seine Knie und schlägt seine Lodenjacke um das eine