»Ja.«
Ihre Augen öffneten sich weit, als ob sie meine ganze Gestalt mit einemmal umfassen wollten; sie hob die Arme gegen mich und fragte schnell weiter:
»Dann sind Sie also der junge Schüler, welchen – –?«
»Der bin ich,« nickte ich.
»Welchen wir damals mit noch einem andern in – – in – – in Falkenau in Böhmen sahen?«
»Ja.«
»Sie kamen uns dann in die Mühle nach, wo mein guter, alter, lieber Vater starb?«
»Ja.«
»Und gaben uns – – gaben uns – –. Oh, ich war damals vor Herzeleid nicht bei mir selbst, sonst hätte ich – – hätte ich – – erlauben Sie! Ich muß ihn rufen, sofort rufen! Das ist einer meiner schönsten Lebenstage! Sie haben uns durch Ihr so ganz und gar nicht zu erwartendes Kommen eine Freude bereitet, die ganz unbeschreiblich ist, denn Sie wissen nicht, nein, Sie können gar keine Ahnung haben, wie oft wir an Sie, an den jungen Mann gedacht haben, der uns damals eine Wohlthat erwies, die wir ihm niemals, niemals vergelten können!«
Sie wollte eine Nebenthür öffnen; ich hielt sie zurück und sagte:
»Bitte, wenn Sie nicht wünschen, daß ich sofort wieder gehe, so erwähnen Sie ja nicht wieder, daß mein Mitgefühl mich damals zu einer Handlung hinriß, welche – –.«
»Was? Welche – –?« unterbrach sie mich, indem sie sich mir rasch wieder zuwendete. »Welche Sie wohl lieber nicht gethan hätten? Das ist nicht wahr! Wenn Sie das sagen wollen, so kennen Sie sich selbst nicht! Ich weiß, daß Sie selbst ein armer, armer Teufel waren und das, was Sie im Gasthause genossen, nicht bezahlen konnten. Wer trotz dieser seiner Armut und ohne sich zu besinnen all sein Geld einem noch Bedürftigeren giebt, der bereut das nie, der wird stets mildthätig bleiben, denn sein offenes Herz ist eine herrliche Gottesgabe, um welche ihn selbst die größten Härten des Lebens nicht zu bringen vermögen. Und, weil wir einmal davon sprachen, ehe mein Sohn bei mir ist, will ich Ihnen folgendes sagen: Ich bin recht wohl in der Lage, Ihnen das Geld, welches Sie mir damals gaben, zurückerstatten zu können, aber ich thue das Ihnen und auch mir nicht an. Das Schärflein der Witwe, oder in diesem Falle richtiger gesagt, das ganze, ganze Vermögen des armen Schülers, welches er auf dem Altare der Liebe, des Erbarmens opferte, darf nicht zu einem mit Zinsen zurückzugebenden Darlehen herabgewürdigt werden; es soll und muß ein Opfer bleiben, welches Gott, der gerechteste Zahlmeister von Ewigkeit zu Ewigkeit, zurückerstatten wird. Vielleicht hat er dies schon gethan, denn aus dem Gymnasiasten, der sogar dann noch der Botenfrau seine letzten Kreuzer in die Hände schüttete, scheint ein Mann geworden zu sein, der seinen Reichtum, wie ich Ihnen anzusehen glaube, nicht allein im Besitz von Gold und Silber sucht. Und mit jenem Gelde, welches mir und meinem Knaben die Reise nach Bremen ermöglichte, habe ich von Ihnen, ohne daß Sie es ahnten, noch eine andere, unendlich wertvollere Gabe empfangen, die ich Ihnen mit allem Golde der Erde, wenn ich es besäße, nicht vergelten könnte, denn Sie haben mich damals von der Verzweiflung errettet. Die Unglücksfälle, welche ohne unser Verschulden damals unsern äußern Wohlstand und unser inneres Glück Schlag auf Schlag niederschmetterten, hatten uns um den Glauben an Gott und um all unser Vertrauen zu ihm gebracht; das war ein größerer Verlust als alle irdischen, die wir erlitten haben. Hungernd und frierend, glaubenstot und hoffnungslos schleppten wir uns bettelnd von Ort zu Ort, und je weiter wir kamen, desto elender wurden wir äußerlich und auch innerlich. Da leuchteten plötzlich mitten in all diese unbeschreibliche körperliche und seelische Armseligkeit hinein die Kerzen des Tannenbaumes in Falkenau, und wie aus Gottes eigenem Munde vom weihnächtlichen Himmel herab erklangen uns die Worte Ihres Gedichtes:«
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ.« – –
Jetzt eine kurze Pause machend, stand sie mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen vor mir. Ihr Blick war, wie damals in der Mühle, wie durch die Mauer hindurch ins Weite gerichtet, aber mit einem so ganz, ganz anderem Ausdrucke. Damals seelenlos, stier und leer, besaß er heut Leben, Licht und Energie. Damals auf eine trostlose Wüste des Elends, der Erbärmlichkeit gerichtet, sah er jetzt die Errettung aus diesem Jammer hinter sich, und vor sich vielleicht noch immer die fernen Strahlen des kleinen Weihnachtsbaumes, der sein Licht so unerwartet auf den mühseligen Pfad der Unglücklichen geworfen hatte. Nun fuhr sie fort:
»Ihre zweite Strophe möchte ich, indem ich zurückblicke, in Beziehung auf uns umändern in:
»Jubelnd klingt es durch die Sphären,
Sonnen künden’s jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Und auch uns blieb es nicht fern!«
denn besonders meinem armen Vater brachten Ihre Verse mehr innerliches Licht, als ihm äußerlich die Kerzen des Baumes leuchteten. Das glaubensleere Dunkel seiner Seele begann sich zu erhellen. Man ahnt gar nicht, was ein kurzes Wort, eine einzige Gedichtstrophe, zur rechten Zeit oder am rechten Orte gesprochen oder gelesen, für eine große, nachhaltige Wirkung auf den Menschen haben kann! Wenn man das beherzigte, wie anders, wie ganz anders würde dann gesprochen und geschrieben werden! Ich war damals mehr mit meinem Vater als mit mir selbst beschäftigt, aber als ich, da ich mich von Gott abgewendet hatte, die Worte hörte:
»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
Selig ist, wer bis ans Ende
An die ewge Liebe glaubt!«
da kam wie ein plötzlicher, heller, klarer Sonnenstrahl die Erkenntnis über mich, daß ich, wenn ich jetzt unter der Schwere meines Leidens zusammenbräche, nicht selig zu preisen, sondern als unselig zu bejammern sein würde, denn ich hatte mit Gott gehadert und zu den verlorenen irdischen Gütern auch alle meine geistigen und geistlichen Besitztümer geworfen, als ob diese ebenso nichtig wie jene seien. Ich habe dann, so müde ich war, während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern immer und immer gebetet und gefleht:
»Blicke auf dein Kind hernieder,
Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!«
und so entsetzlich der nächstfolgende Tag war, und so sicher ich den Vater dem Tode entgegensinken sah, es klang doch fort und fort eine mahnende Stimme in mir, daß ich die Hand nach dem verlorenen Glauben an Gott und nach dem weggeworfenen Vertrauen zu ihm ausstrecken müsse, wenn ich nicht auch tot sein und mich verloren geben wolle. Wir waren während der Nacht dem Erfrieren nahe; dann nahm uns die arme Botenfrau mitleidig auf, und ich kniete am Sterbelager des Vaters, dem es nicht an der Wiege gesungen worden war, daß er einst auf Lumpen von der Erde scheiden werde. Meine Thränen rannen nach innen und drohten, den mir von Ihnen gekommenen Weihnachtsschimmer wieder zu verlöschen. Er starb armselig, aber doch selig, Ihre Worte bestätigend:
»Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.«
Als ich dann von seinem Lager aufstand, kämpfte in mir der Jammer, der mich wieder niederreißen wollte, mit der Pflicht, mich um meines Sohnes willen zusammenzuraffen und aufrecht zu halten. Hinter mir gähnte hart an meinen Fersen die klaffende Tiefe des überstandenen Elendes; neben mir lag der Tote, von dem ich noch nicht wußte, wo er seine letzte Ruhestätte finden werde; vor mir stiegen steile, kahle, unbekannte Felsen auf, die kommenden Tage, die ich, schon jetzt vor Müdigkeit zusammenbrechend, erklimmen sollte, und welche Mittel hatte ich dazu? Eine trockene Brotrinde war alles, was ich besaß, alles – – alles! Es wurde mir leer vor den Augen. Ich sah die Leiche nicht mehr, nicht die Frau, deren jämmerlicher Gast ich war, auch nicht meinen Sohn und auch nicht – – – Sie, der Sie sich bei uns befanden, ohne daß ich es beachtet hatte. Aber indem ich in eine endlose, leere Öde