»Danke.« Schluchz.
Sonja wollte das Gespräch beenden, als er sagte: »Warte mal, bitte rede mit niemandem darüber. Versprichst du mir das? Vor allem nicht mit Mama und Papa. Sie würden mich …«
»Mach ich nicht.«
»Ehrlich nicht?«
»Versprochen. Ich schweige wie ein Grab.«
»Und noch was.«
»Was denn jetzt noch?«, fragte sie ungeduldig.
»Wundere dich nicht, aber ich kann nicht selbst kommen.«
Sonja brauchte drei Sekunden, ehe ihr einfiel, dass Max wirklich jeden Trick aus der Kiste holte.
»Omilein? Bist du noch dran?«
»Ja klar, bin ich noch dran. Ich finde es nur schade, ich hätte dich so gern noch einmal wiedergesehen. Du musst ganz schön gewachsen sein, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie alt bist du jetzt?«
»Rate doch mal.«
Schon wieder. »Acht?«
»Genau.«
Der Junge am Telefon war noch nicht im Stimmbruch, aber acht Jahre war er auch nicht mehr. Er konnte nicht wissen, dass Sonja im Laufe ihrer Dienstjahre ein sicheres Gespür für Stimmen entwickelt hatte. Sie schätzte Max auf zehn bis zwölf Jahre. Normalerweise waren Enkeltrickbetrüger deutlich älter. Diese Bande hier musste es irgendwie geschafft haben, einen erstaunlich jungen Gehilfen zu rekrutieren. »Warum kannst du denn nicht selbst kommen?«
»Aber ich bin doch in Wiesbaden.«
»In Wiesbaden?«, tat Sonja entsetzt. »Was machst du denn in Wiesbaden?«
»Ich bin hier in der Tierklinik. Ich kann Oskar keine Sekunde allein lassen. Er braucht mich jetzt, verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Kai kommt zu dir, er wohnt in deiner Nähe.«
»Kai?«, fragte Sonja langsam. »Wer ist denn Kai?«
»Mein bester Freund.«
»Woher weiß ich denn, dass er es ist. Und nicht irgendein … Betrüger?«
Max antwortete ungerührt. »Ich beschreib ihn dir: Ganz einfach, er trägt ein schwarzes Käppi, Jeansjacke und Jeans und Turnschuhe. Er hat hellbraune Haare, ganz kurz. Und als Erkennungszeichen einen roten Fleck über der rechten Augenbraue. Er ist genauso alt wie ich. Und er ruft mich auf seinem Handy an, sobald er bei dir ist und du kannst dann mit mir sprechen, okay? Er heißt Kai.«
»Ich weiß. Und wie kommt das Geld bis morgen früh zu dir nach Wiesbaden?«
»Kai fährt die ganze Nacht durch.«
»Mit dem Zug?«
»Mit dem Auto.«
»Ich denke, er ist so alt wie du.«
Max räusperte sich. Sonja stellte viele Fragen. Zu viele?
»Nein, natürlich nicht, ein Freund fährt ihn.«
Der Freund vom Freund dessen Freund, dachte Sonja. »Hoffentlich klappt das auch alles.«
»Natürlich!«, rief Max im Brustton der Überzeugung. »Danke, Omilein. Du bist die Allerbeste. Das vergesse ich dir nie. Bis gleich. Wir telefonieren. Hab dich lieb.«
Klick.
»Ich sag dir gleich Omilein«, brummte Sonja und schob das Telefon in eine der ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke.
Für den Fall, dass Max und Kai und sein Fahrer sie beobachteten, zögerte die Hauptkommissarin a. D. nicht lange und machte sich auf den Weg zu ihrer Hausbank. Sie verstaute einen Brustbeutel im Dekolleté und steckte ihre Pistole in ihre Handtasche. Eine Walther P6, die sie nach ihrer Pensionierung ordnungsgemäß erworben und die ihren Stammplatz im Nachttisch hatte, während die Munition sich an einem anderen Ort befand, wie es sich gehörte, in einer Box unter dem Bett. Sonja lud die Pistole und kontrollierte die Sicherung. Auch ihr Handy, ein Smartphone, wanderte in die Handtasche.
Zwei Jahre zuvor, als sie einen Tatverdächtigen in einem Mordfall für Frieda Stein ablenkte und in Schach hielt, »überließ« dieser ihr das Smartphone, in Unkenntnis der misslichen Lage, in der er sich befand, und in der Hoffnung, ein gutes Geschäft zu machen. Es hatte ihm nicht genützt. Sie lieferte ihn trotzdem aus.
So vorbereitet stieg Sonja in ihr neues Auto, das im Vorgarten am Ladekabel gehangen hatte.
Nach langen Überlegungen und Nachforschungen und beeindruckt von der Bewegung Fridays for future war sie von ihrem uralten, dieselfressenden Passat auf ein kleines e-Auto umgestiegen. Offizieller Name seiner Farbe: Olympiablau. Zeitgleich war sie zu einem Anbieter von Ökostrom gewechselt, der ihr auch eine Ladestation verkaufte. Hinzu kam der selbst erwirtschaftete Strom ihres Windrades, das ein wenig an die Mühlen des Don Quichotte erinnerte. So ausgestattet hatte Sonja jedes Mal ein sauberes Gefühl und reines Gewissen, wenn sie irgendwo das Licht einschaltete, durch die Weltgeschichte googelte oder auf den Straßen der Eifel unterwegs war.
Während der Fahrt fiel ihr im Rückspiegel kein Auto auf, das auf bedenkliche Art und Weise hinter ihr herzockelte. Sonja Senger war Kundin der Volks- und Raiffeisenbank Nordeifel, die eine Filiale in Gemünd betrieb. Auf dem Parkplatz auf dem Marienplatz waren nur wenige Plätze belegt, in keinem der Autos saß jemand. Sie fröstelte. Als sie die Dreiborner Straße überquerte, vermied sie es, sich umzublicken. Schließlich war sie ein Profi. Auszahlungsautomaten und der Drucker für die Kontoauszüge lagen diskret hinter den Eingangstüren. Tausend Euro war die Höchstsumme, die an einem Tag ausbezahlt wurde. Hatte Max deswegen tausend Euro gefordert? Sonja ließ es bei den Kontoauszügen bewenden und verstaute sie im Brustbeutel.
Sie verwahrte ein wenig Bargeld in der Schublade des Esstisches auf, wo auch Post und Rechnungen darauf warteten, eines Tages geordnet und abgeheftet zu werden. Darunter befand sich ein flaches Fach, ein Geheimfach, wo ein paar hundert Euro in krumpeligen Scheinen als eiserne Reserve lagerten. Morgen kam neues Holz für den grünen Kachelofen, das musste sie bar bezahlen.
Auch die Rückfahrt war unauffällig. Als das Handy in ihrer Handtasche klingelte, bog Sonja gerade am Tönnishäuschen von der B 265 links Richtung Wolfgarten ab. Sie schaffte es bis zum Wanderparkplatz linker Hand. Es war Frieda.
»Ja?«, fragte sie ein wenig atemlos. Eine Sekunde lang überlegte sie, Frieda von ihrem Experiment zu berichten, es brannte ihr auf den Nägeln, aber dann hätte sie sofort die Polizei am Hals.
»Wo bist du?«, fragte Frieda.
»Im Auto. Unterwegs. Ich war in Gemünd, am Bankautomaten.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Warum nicht?«, fragte Sonja zurück. »Ich hatte kein Geld mehr im Haus.«
»Alles okay bei dir?«
»Natürlich.«
»Ich wollte heute Abend vorbeikommen.«
»Oh, das geht nicht«, wiegelte Sonja schnell ab. »Heute nicht. Leider. Morgen vielleicht.«
»Was hast du denn vor?«
Frieda übertrieb es mit ihrer Fürsorge, wenn man sie nicht ausbremste. Sonja schwieg, ein sicheres Mittel, um sie darauf aufmerksam machen.
An der Kermeterschänke bog Sonja ab und folgte der einzigen Straße, die durch Wolfgarten verlief, bis zum Ziegenbendgesweg, der in den Feldweg mündete, vorbei am blauen Hühnerwagen, in dem es leise gackerte. Kein Auto stand vor dem Forsthaus.
Die Kontoauszüge verschwanden in der Schublade des Esstisches. Pistole und Handy wanderten zurück in die ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke. Sie war bereit für den Fall ihres Lebens.
Sie stellte sich ans Fenster, legte eine Hand auf den runden Rücken ihres alten, zahnlosen Katers, der auf der Fensterbank döste, und blickte