Und wer küßt mich?. Tone Kjærnli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tone Kjærnli
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711322857
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und schaukelte. Jon bekam Kjerstis Platz, die im Frühling abgegangen war, genau vor mir, in der Fensterreihe. Und die ganze Zeit drehte er sich um, um mir den Radiergummi zu klauen, einen Bleistift zu leihen, zu gucken, was ich gemalt hatte, oder einfach, um sich umzudrehen. Ich schlug ihm auf die Finger und stieß ihn in den Rücken.

      Wir sprachen über die Ferien. Das machen wir immer am ersten Schultag. Dann erzählte unsere Lehrerin uns, dass Frau Vage, die wir bisher im Turnen hatten, in den Ferien ein Baby bekommen hat, ein Mädchen.

      »Toll!«, riefen wir Mädchen und schwenkten zwei Finger in der Luft.

      »Uuuuuu!«, riefen alle Jungen, ausgenommen Morten, der wie üblich mindestens vier rostige Nägel im Mund hatte und gar nichts sagen konnte.

      »Haben wir dann dieses Jahr gar kein Turnen?«, fragte Inger-Karin voller Hoffnung. Denn zu den Turnstunden hat Inger-Karin fast immer ihr Turnzeug vergessen oder sie hat Kopfschmerzen, sodass sie ruhig auf der Bank sitzen muss.

      »O doch«, sagte unsere Lehrerin. »Ihr bekommt einen anderen Lehrer, wie ihr euch denken könnt. Geir Böler heißt er.«

      »Oh«, flüsterte Inger-Karin. »Ach so.«

      »Toll«, sagte der Rolf. »Es ist viel toller mit einem Sportlehrer als mit einer Sportlehrerin.«

      »Ist es nicht«, sagten Turid und Siv-Margrete.

      Anschließend, als die Lehrerin unseren Stundenplan an die Tafel schrieb, ließ der Rolf einen Zettel durch die Klasse kreisen, auf dem stand: FRAU VAGE HAT ES DREIMAL GEMACHT! Typisch Rolf, der muss immer gleich schweinisch denken, aber alle wussten jedenfalls, was er meinte, denn Frau Vage hatte bereits zwei Kinder. Alle wussten es, ausgenommen Inger-Karin.

      »Was gemacht?«, fragte sie und dadurch entdeckte unsere Lehrerin den Zettel, wurde ganz dunkel im Gesicht und rot am Hals und sagte, wir sollten aufhören, uns so kindisch zu benehmen, wo wir jetzt in die fünfte Klasse gingen. Darin war ich ihrer Meinung.

      Oft fahren Heidi und ich zusammen mit Jon und Jörn von der Schule nach Hause. Und mit dem Rolf, wenn er zusammen mit Jon und Jörn ist. Zuerst fahren wir dann an dem Bonbongeschäft von Frau Nilsen vorbei. Vater meint, es sollte gesetzlich verboten werden, Bonbongeschäfte neben Schulen zu eröffnen. Da bin ich anderer Meinung. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass jemand wie Frau Nilsen gesetzlich verboten werden sollte. Das Marzipanwürstchen, wie wir sie auch nennen. Frau Nilsen kann nämlich keine Kinder leiden. Sie ist der Meinung, alle Kinder seien Diebe, die blitzschnell Süßigkeiten klauen, sobald sie ihnen nur den Rücken zudreht, also tut sie das nie. Sie wacht über uns wie ein Habicht, und wenn sie mal lächelt, was selten genug vorkommt, dann mit zusammengekniffenen Lippen, das Gesicht in vier Doppelkinne zusammengepresst. Als hätte sie Angst, dass wir ihre Visage auch noch klauen würden, wenn sie sie zu weit vorstreckte. Die einzigen Kinder, die Frau Nilsen gefallen, sind süße kleine Mädchen. So ein süßes kleines Mädchen bin ich ganz sicher nie gewesen. Mit Heidi war das etwas anderes. Als Heidi und ich in die zweite Klasse gingen und leere Flaschen sammelten, um danach bei ihr hineinzulatschen und alles zu vernaschen, da pflegte Frau Nilsen zu schnaufen: »Ach ja!« und »Ach, wie süß!« Womit sie ganz sicher nicht mich meinte. O nein, das war allein Heidi, die gemeint war.

      »Haben Sie schon mal solche Grübchen gesehen! Und so feines Engelshaar!« Frau Nilsen setzte Heidi auf den Tresen, tätschelte sie und tändelte mit ihr, wobei sie sie mit Schokoladenstückchen fütterte. Und wenn andere Damen anwesend waren, jedenfalls solche mit massenhaft Lippenstift und Parfüm, dann nickten und lächelten die auch und schrien: »Mein Gott, was für ein hübsches Kind!«

      Alle waren mit Heidi beschäftigt.

      Mich bemerkte keine.

      Nicht gerade sehr spaßig, wie ihr euch denken könnt.

      Aber als eines Tages Frau Nilsen wieder mal herumtätschelte, hackte plötzlich das schöne Kind seine Zähne in einen ihrer dicken Finger, dass Frau Nilsen aufschrie: »Das Kind hat mich gebissen! Das Kind hat mich in den Finger gebissen!«

      »Äntschuldigung«, sagte Heidi. »Aber ich dachte, der Finger wäre ein Marzipanwürstchen.«

      Die Lippenstift- und Parfümdamen lachten und Frau Nilsen lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und bösen Augen. Zwei Jungen aus der siebten Klasse hatten alles mitbekommen und erzählten es den anderen. Am nächsten Tag wusste es die ganze Schule. Alle steckten den Kopf zur Ladentür rein und riefen: »Marzipanwürstchen!«

      Der Rolf meint, wenn das Marzipanwürstchen schon erwartet, dass wir frech sind, dann könnten wir es genauso gut sein. Seine Bonboneinkäufe enden immer damit, dass er aus der Glastür stürmt, während Frau Nilsen hinter ihm herschimpft: »Lümmel! Welch bodenlose Frechheit! Aber ich weiß, wer du bist! Ich werde es deinem Vater sagen . . .!«

      Aber das tut sie nie. Der arme Rolf, wenn sie es wirklich täte. Denn sein Vater wird ohne jeden Grund sauer, erzählt der Rolf, und dann verprügelt er ihn. Obwohl es verboten ist, Kinder zu prügeln. Der Rolf sagt, dass ihm das egal ist.

      Der Rolf sagt viele merkwürdige Sachen. Er sagt, dass die Betrunkenen im Einkaufszentrum eigentlich Spione seien, die den Geschäftsführer von Olufsens Supermarkt beobachten, und dass der Geschäftsführer ein gesuchter Terrorist sei, der zehn Menschen auf dem Gewissen habe. Mutter sagt, die Preise bei Olufsen seien kriminell. Aber ich glaube nicht, dass deshalb jemand gestorben ist.

      Wir radeln gewöhnlich über den Platz vor dem Einkaufszentrum. Dann fahren wir auf die Brücke, die über die Autobahn führt. Dort halten wir an und spucken auf die Autos unter uns. Der Rolf schafft immer die dicksten Klumpen. »Yeah!«, schreit er, reißt beide Arme über den Kopf und spreizt zwei Finger. »Das Spuckphantom hat wieder zugeschlagen!«

      Dann fahren wir einen Hügel hoch und auf halber Höhe teilt sich der Weg. Jörn und Jon verschwinden nach rechts. Der Rolf verschwindet auch, weil er nicht mit uns Mädchen allein sein will. Er hat nicht einmal genug Mut, mit ein paar Pipimädchen zusammen zu sein, wie Jörn sagt. Er tritt wie wahnsinnig in die Pedalen, den restlichen Hügel hoch und um die Kurve, wo er wohnt.

      Heidi und ich schieben unsere Räder das letzte Stück.

      Manchmal gehe ich mit Heidi nach Hause. Andere Male kommt Heidi mit zu mir. Aber einen Tag in der Woche soll Heidi zu ihrem Vater, und dann steht ihre Mutter schon da, tritt von einem Bein aufs andere und drängelt, dass Heidi sich beeilen muss. Dann gehe ich schräg über die Straße zu mir nach Hause. Mit dem Fahrrad brauchen wir nur ein paar Minuten bis in die Schule. Wieder nach Hause zu fahren dauert viel länger. Der Rekord waren vier Stunden, aber das kam nur, weil der Rolf behauptete, er wüsste, wer das Postamt ausgeraubt hatte, da mussten wir spionieren, und natürlich hatte der Rolf Unrecht, aber das konnten wir ja nicht wissen. Deshalb war es eigentlich nicht in Ordnung, dass die Eltern sauer waren, als ich heimkam, weil sie Angst gehabt hatten.

      Aber heute fuhren wir schnell nach Hause, denn es goss in Strömen. Also hatte Vater Recht behalten.

      3

      Unser Haus ist voller Geräusche. Besonders bei Wind. Oder bei Regen. Es heult und seufzt, als ob jemand in den Wänden säße und weinte. Das Gespenst der Großmutter, denke ich. Es ist das Großmuttergespenst, das weint. Denn sie war bestimmt sehr unglücklich. Ich höre gern zu, wenn Mutter erzählt, wie unglücklich Großmutter war, auch wenn es sehr traurig ist.

      »Ach ja, mein Vater, dein Großvater, der hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Auf seine Entdeckungsreisen! Ließ Mutter mit drei Kindern und einem wackligen Krähenschloss zurück, in dem der Regen durch das Dach tropfte. Und dann kam er Monate später mit Schildkrötenpanzern, Speeren, Masken und merkwürdigem Schmuck zurück, den Mutter nicht brauchen konnte.«

      »Die Arme.«

      »Sie hatte es nicht leicht, deine Großmutter. Doch sie machte ihm niemals Vorwürfe. Sie beklagte sich nie. Und war er zu Hause, dann war alles voller Farben, Feste, Musik und Lachen. Aber immer fuhr er wieder fort. Und ihr Lachen ging in Weinen über, wenn Mutter dachte, wir Kinder würden schlafen.«

      »Denkst du, das ist ihr Gespenst, dieses