Kojas Haus der Sehnsucht. Alois Theodor Sonnleitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alois Theodor Sonnleitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711570050
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nicht ausdenken. Wenn Du in der Früh aufstehst und bevor Du abends einschläfst, denk’ an die Mutter, die für Dich betet, denk’ auch an mich, die ich Dir helfen will, dass Du Doktor werden kannst, denk’ an unser Haus der Sehnsucht, wo wir es den Eltern wollen recht gut gehen lassen, wenn sie einmal alt sind. Wenn Du betest, so sprich mit Gott, der ja überall ist, auch in Dir, sprich mit ihm, dass er Dir einen starken Willen geben soll und einen hellen Kopf, damit Du immer tuest, was recht ist und unterlassest, was die Mutter weinen machen könnte. Dazu ist notwendig, dass Du Dich gut ausschlafest. Damit Du ruhiger schlafen kannst in der Nacht, bitte die Meisterin, dass sie Dir erlaubt, die Werkstatt täglich nach Feierabend auszukehren. — Dann umwickel’ den Besen mit einem nassen Tuch und wisch’ feucht auf, auch unter den Möbeln, damit die Floh-Eier, die im Staub sind, zugrund gehen. Und trink’ ja kein Bier mehr, damit es Dir nicht geht, wie unserm armen Vater, der nüchtern ein guter Mensch ist und bös sein kann, wenn er getrunken hat. Du musst immer gut sein, immer! Und klug musst sein, und einen starken Willen musst Du haben. Lieber Koja, unter den Geschichten, die wir in Pöchlarn gelesen haben, war auch ein Reclam-Büchel „Benjamin Franklins Leben“, von ihm selbst erzählt, das schick’ ich Dir, sobald ich’s auf dem Boden finde, wo ich die Bücher hinter den Trambalken versteckt hab’, damit sie der Vater nicht beim Trödler verkauft. Der verwaiste Benjamin hat vom zehnten Jahr an nicht mehr in die Schule gehen dürfen, da hat er selber gelernt, er war Lehrbub in der Druckerei. Und wie er vierzehn Jahre alt war, da hat er in den Strassen ein Heldengedicht verkauft, das er selbst gedichtet, selbst gesetzt und selbst gedruckt hatte. Später ist er Redakteur geworden. Und wie er von einem Trunkenbold, der Druckereibesitzer war, das Geschäft übernommen hat, da hat er selber seine Werkstatt ausgekehrt, ohne Gehilfen alles gesetzt und gedruckt, selber alle Hausknechtarbeit gemacht; hat fleissig studiert und physikalische Experimente gemacht, Du weisst doch, dass er den Blitzableiter erfunden hat. Er hat selber lehrhafte Geschichten gedichtet und gedruckt, auch Kalender mit Ratschlägen für die Farmer. Und wenn er auch mit dem Schiebkarren liefern gefahren war, alle Mitbürger haben ihn verehrt und haben getan, was er geraten hat, die Kleefelder haben sie gegipst, Blitzableiter auf die Häuser gesetzt, die Strassen reguliert und beleuchtet, die Sicherheitswache, die Feuerwehr eingeführt, alles, wie er’s geraten hat. Und mit Washington zusammen hat er die Vereinigten Staaten Nordamerikas von Englands Tyrannei frei gemacht. — Ist das nicht herrlich! — Mein Koja! Solch ein Besonderer musst Du auch werden, solch ein Mann, der andre anführt zum Guten; das kannst Du am besten erreichen, wenn Du Doktor wirst. — Und weil ich das von Dir hoffe, darum ist mir nicht leid, dass ich meine jungen Jahre in Arbeit verbringe, Tag und Nacht, dass ich gar kein Vergnügen habe, nicht einmal das bisschen Geschichtenlesen, damit nur Du Dich zu einem rechten Manne auswachsen kannst; Koja, mein Koja, lass meinen guten Willen in Dir sein!

      Es küsst Dich Deine

      treue Schwester und die Mutter.

      P.S. Der Vater ist jetzt nicht zu Hause, sonst würde er Dich auch grüssen. Er hat Dich ja auch gern; weisst Du noch, wie er Dir den Martin gekauft hat und das Aquarium? Wenn Du uns wieder schreibst, grüss’ auch den Vater. Deinen Brief kann ich ihm nicht zeigen; er wäre zornig, weil Du ihn nicht gegrüsst hast; er ist unglücklich, weil er nicht so leicht entbehren kann wie die Mutter und ich. — Dafür kann er aber nicht, dass er so schwach ist. Das hat mir die Mutter erklärt. Dem Vater sind doch die Eltern gestorben, wie er zehn Jahre alt war. Er ist bei einem gewissenlosen Vormund unterm Gesinde aufgewachsen und hat sich dort das Trinken angewohnt. Das hat ihn so schwach gemacht. Drum sag’ ich Dir noch einmal so eindringlich, als ich kann: Trinke kein geistiges Getränk, damit Dein Wille stark und Dein Kopf immer klar sei zum Überlegen. Noch etwas will ich Dir schreiben, weil es sonst für Dich verloren wär’: In dem Jahrgang der Gartenlaube, den der Vater beim Trödler verkauft hat, war die Lebensgeschichte des englischen Eisenbahningenieurs George Stephenson: Der hat als Bub im Bergwerk die Stollentürln auf- und zugemacht, wenn die Kohlenhunde durchgeschoben wurden. Erst in der Sonntagsschule hat er lesen gelernt, ist Maschinenputzer geworden, hat sich mit Schuhflicken und Uhrenausbessern, später mit Maschinenreparaturen Geld auf Bücher verdient. Dann hat er die fahrende Lokomotive mit einer selbsttätigen Steuerung am Dampfzylinder erfunden, die erste Eisenschienenbahn gebaut und ist in England und den Niederlanden königlicher Ingenieur geworden. Und dann hat er mit Königen an einer Tafel gespeist. So weit hat es der einst so arme Bergwerks-Hilfsarbeiter gebracht. Koja, Du hast es besser, als er’s gehabt hat. Du kannst leicht Doktor werden. Mach’ die Prophezeiung der Schwammerliesel wahr! — Dass in Dir ein guter Kern ist, weiss niemand besser als wir.“ —

      Die nächsten Tage waren für Agi freudenvolle. Durch Ausnützung jeder Minute steigerte sie den Tagesverdienst auf einen Gulden achtzig Kreuzer. Jetzt konnte die Mutier etwas besser genährt werden, und auch die Wochensendungen für Koja waren gesichert.

      Lorents Anstellung bei der Aspang-Bahn liess auf sich warten. Dennoch waren Mutter und Agi voll Zuversicht. Vor ihren Fenstern im Hofe begannen ja die verstaubten und verrussten Sträucher schüchtern zu grünen. Unterm Fenster im ersten Stock, vor dem die Hausfrau ihre überwinterten Geranien im grünumgitterten Fenstergärtchen stehen hatte, hing ein Käfig im Freien. Darinnen liess ein rotbrüstiger Edelfink sein lautes Frühlingslied erschallen, und das Gezwitscher der Sperlinge wurde lauter von Tag zu Tag. Mit viel Gezänk und Wichtigtuerei bauten sie hoch oben unterm Dachgesims ihre zausigen Nester, von denen der Wind manchmal ganze Büschel Haare, Strohhalme und Wollfäden hinunterfegte in den Hof, wo die Luft stille stand. Die von keinem Sonnenstrahl beschienene Wohnung hatte bisher geheizt werden müssen, so dass die von Pöchlarn mitübersiedelten Kohlen- und Holzvorräte bedrohlich schwanden; jetzt wurde sie auch ohne Heizen erträglich, wenn auch das Schuhzeug im Waschkasten schimmelte. — Der Frühling, dessen Fortschreiten Agi bei ihren Liefergängen am Blühen der gelben Forsythien in den Parkanlagen wahrnahm, besonders aber die Stimmen der Amseln, die in den Baumkronen des alten Schmelzer Friedhofes flöteten, machten sie ganz froh. Aber mit jedem Tag rückte der erste Mai unerbittlich näher, der Zahltag für den Vierteljahreszins. Noch war es ihr nicht gelungen, auch nur einen Gulden auf den Zins zurückzulegen. Bei der eintönigen Arbeit dachte sie daran, was sie in der Pöchlarner Zeit neben Charles Dickens ergreifenden Schilderungen des Londoner Grossstadtelendes und der Schuldgefängnisse in Zeitungsberichten vom „Delogieren“ armer Wiener Mieter gelesen hatte. Sie konnte in den Nächten nicht schlafen, wann sie sich vorstellte, dass ihre Lieben aus der Wohnung gewiesen, ihr Stubengerät auf die Gasse gestellt würde, wenn sie den Mietzins nicht rechtzeitig zahlen könnten. Würde dies die noch immer schwache Mutter samt dem kleinen Rudi überleben? Agi hatte von Massenquartieren gelesen, wo fünfzig und mehr Personen in einer von Ungeziefer wimmelnden Wohnung nächtigten, vom überfüllten Asyl für Obdachlose, wo die von Bettelsuppen hungrigen Ärmsten der Armen nur schwer eine Unterkunft erhielten. So weit durften ihre Lieben nicht sinken. Was würde denn aus Koja werden, wenn es ihr nicht gelänge, der Verelendung der Familie vorzubeugen? Da blieb kein anderer Ausweg, als die für Koja hergerichtete Kammer an einen Zimmerherrn zu vermieten. Und Agi hatte Angst davor, dass ein Fremder den ohnehin schwer errungenen, immer gefährdeten Frieden des Heims ganz zerstören könnte. Mit ihm konnte die Gemeinheit, Unehrlichkeit, Unsauberkeit über die Schwelle kommen. Es gab aber kein Ausweichen; Armut macht unfrei. Mit schwerem Herzen und geringer Hoffnung schrieb Agi den Ankündigungszettel, um ihn aussen neben drei andere ans Tor zu hängen. Um ihrem Zettel vor den anderen die Beachtung zu sichern, welche des Erfolges erste Bedingung ist, schrieb sie zierlich und doch kräftig: „Ein freundliches Stübchen ist an einen gebildeten Herrn zu vermieten. — Ebenerdig Türe 7“, und umrandete die Schrift mit einem Blütenzweig, dessen einfache Formen sie den Schlingmustern entnommen und kräftig mit Rot und Blau gefärbelt hatte. Als sie liefern ging, hängte sie den Zettel über die andern — und gab ihm den Augensegen. Und als sie zurückkam — war der Zettel weg! — Als sie daheim über die Schwelle trat, wehte ihr der Duft wirklichen Kaffees entgegen. Die Mutter begrüsste sie mit einem leisen und dennoch ausdrucksvollen „Gott sei Dank!“ und führte sie an der Hand ins Zimmer bis zu ihrem Nähtisch. Da lagen neben dem ausgefüllten Meldezettel vier Zehner-Banknoten und fünf Silbergulden. Agi machte grosse Augen: „Ja, ja, wie ist denn das nur möglich?“ — Da schmunzelte die Mutter: „Ich hab ihm’s g’sagt, wie’s wahr ist: wir vermieten, damit wir den Zins zahlen können; und geholfen wär’ uns nur mit vierteljährlicher Vorauszahlung. Da hat er sich die Kammer angesehen und ist geblieben. An demselben